Фридрих Рейнхольд Крейцвальд (1803 – 1882)ÜberisichtHerkunft, ElternNach einer Überlieferung soll ein estnischer Bauer namens Mang, der ein Urgroßvater Friedrich Reinhold Kreutzwalds, des Gründers der estnischen Belletristik war, von Lais (Laiuse) (Livland) nach Jömper (Jõepera) (im Kirchspiel St. Katharinen (Kadrina) im estländischen Wierland (Virumaa) in der Nähe von Wesenberg (Rakvere)) gebracht und als Tauschware gegen einen Pflugochsen auf dem Gut als Brandweinbrenner angestellt worden sein. Dort, auf dem H. von Vietinghoff gehörenden Gut Jömper, wurde Kreutzwald am 14. (26.) Dezember 1803 geboren. Seine Eltern waren Leibeigene: Juhan, der Vater, war seines Zeichens Gutsschuster, die Mutter Ann arbeitete als Zimmermädchen. Anfang 1804 wurde die Schusterfamilie auf ein anderes Gut der Vietinghoffs umgesiedelt, nach Alt-Sommerhusen (Kaarli), ebenfalls im Kirchspiel St. Katharinen. Hier wurde Juhan als Kletenkerl (Aufseher der Kornkammer des Gutshofs) in Dienst genommen, Ann blieb zu Hause. Auf Alt-Sommerhusen verging auch die Kindheit Kreutzwalds (1804–1815), hier hörte er zum ersten Mal Geschichten über den sagenhaften Recken namens Kalevipoeg (Sohn des Kalev), lernte lesen, besuchte mit seinen Eltern Betstunden der Brüdergemeinde – die Gegend von St. Katharinen war eines der Zentren der herrnhutischen Bewegung Estlands. Auch die Vorfahren Kreutzwalds waren schon in der Bewegung aktiv gewesen, sie waren der Schrift kundig und gehörten zu den geistig regsten Bauern des Ortes. Dank dieser alten Beziehungen zu den Herrnhutern wurde es Kreutzwald auch später möglich, seinen Bildungsweg in Reval (Tallinn) fortzusetzen. 1815 erhielt Kreutzwalds Vater, der Kletenkerl Juhan, für seinen guten Dienst vom Gutsherrn einen Freibrief, mit dem er aus der Leibeigenschaft entlassen wurde. Damit gingen Bewegungsfreiheit und der Nachname Reinholdsohn einher. Als nunmehr freier Mann versuchte der Vater eine Zeit lang (1815–1818) in der Nähe von Raggafer (Rägavere) bei Wesenberg ein Wirtshaus zu unterhalten (die sog. Aru’sche Kneipe, Aru kõrts), doch nachdem aus der Wirtshauskasse eine beträchtliche Summe Geld entwendet worden war, gab er auf. Zum nächsten Wohnort der Familie wurde das Gut Erlenfeld (Ohulepa) im benachbarten Harrien (Harjumaa) (Estland), wo der Vater eine Verwalterstelle gefunden hatte. Auf Erlenfeld kam der junge Kreutzwald zum ersten Mal mit lebender Volksdichtung in Berührung. Eine einflussreiche Figur in seiner Kindheit muss Jakob Fischer, ein pensionierter Kammerdiener des Gutes, genannt Toa-Jaagup, gewesen sein, der ein vorzüglicher Geschichtenerzähler, Musiker und Arzt gewesen sein soll. Der letzte Wohnort der Eltern Kreutzwalds (1824–1832) blieb bis zum Tod des Vaters Juhan das Gut Wieso (Viisu) in Jerwen (Järvamaa) (Estland) in der Nähe von Weißenstein (Paide). Nach dem Tod des Vaters brachte Kreutzwald seine Mutter Ann nach Werro (Võru) (Livland) zu seiner Familie. Bildung, DorpatEine Hinderung für Kreutzwald in allen frühen Etappen seines Bildungswegs war seine mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache, die nur durch Hartnäckigkeit wettgemacht werden konnte. Erste Kenntnisse im Lesen und Schreiben wurden ihm von seinen Eltern vermittelt. Im Alter von elf Jahren (1815) wurde er in Wesenberg eingeschult: Er lernte in der Elementarschule, danach (1817–1818) in der Kreisschule dieser estländischen Kleinstadt. Kreutzwalds Schulbesuch in Wesenberg musste jedoch wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten abgebrochen werden. Dank der Beziehungen seiner Familie zur Brüdergemeinde konnte er jedoch 1819–1820 seinen Bildungsweg in Reval, in der dortigen deutschen Kreisschule fortsetzen. Auf Wunsch seiner Eltern sollte er sich auf ein Studium im herrnhutischen Seminar für Volksschullehrer, das man damals in Reval gründen wollte, vorbereiten. Er erhielt auch Privatunterricht in deutscher Sprache und in anderen Fächern, doch die damit verbundene strenge herrnhutisch-pietistische Moral stieß bei dem jungen Mann auf starke Ablehnung, deren Spuren sich in seinem ganzen späteren Leben wiederfinden lassen. Nach Abschluss der Kreisschule arbeitete Kreutzwald zunächst als Lehrer an der 2. Revaler Knabenschule, später auch an der Revaler Mädchenschule und bereitete sich gleichzeitig auf seine Weiterbildung vor. In der Revaler Periode entstanden seine ersten übersetzerischen und dichterischen Versuche, hier kam er auch zum ersten Mal in Kontakt mit dem Theater. Er soll eine Episode aus Friedrich Schillers Schauspiel „Die Räuber“ ins Estnische übersetzt und sich auch in der Übersetzung der Leidensgeschichte der Heiligen Genovefa versucht haben. Nach Erhalt des Lehrerdiploms (1823) und nach dem Scheitern der Gründungsidee des herrnhutischen Lehrerseminars entkam Kreutzwald den vorbestimmten Lehreramtspflichten und begab sich nach Sankt Petersburg (1824), fest entschlossen, an einer Hochschule weiter zu studieren. In der russischen Hauptstadt gelang es ihm, eine gute Stelle als Hauslehrer zu finden, was ihm ermöglichte, Geld für das geplante Studium an der Akademie für Militärmedizin zu sammeln. Der Plan scheiterte jedoch wegen seiner Zugehörigkeit zum Bauernstand. Zurück in die baltischen Länder kehrte Kreutzwald im Herbst 1825, am Vorabend des Dekabristenaufstandes. Nach einem Aufenthalt von anderthalb Jahren in der russischen Hauptstadt ging Kreutzwald jetzt nach Dorpat (Tartu) (Livland), wo er die nächsten acht Jahre verbrachte. Anfang 1826 bestand er die Aufnahmeprüfungen für die medizinische Fakultät der Universität Dorpat. Einschließlich der Praxiszeit an verschiedenen Epidemieherden Livlands dauerte sein Medizinstudium insgesamt sieben Jahre. Die Studienjahre waren für Kreutzwald von großer Bedeutung im Hinblick auf die Herausbildung sowohl seiner Anschauungen als auch seines späteren, lebenslangen Freundeskreises. Neben Pflichtfächern belegte Kreutzwald in Dorpat auch Vorlesungen in Ästhetik und Literatur und las viel sowohl klassische als auch zeitgenössische europäische Literatur. Aufgrund der Texte, die er sich damals in der Universitätsbibliothek und woanders ausgeliehen hatte, lässt sich behaupten, dass er in der deutschen, aber auch der englischen und französischen Literatur recht gut bewandert war. Großen Einfluss übten auf ihn vor allem die aufklärerischen Ideen Johann Gottfried Herders und die Bücher Garlieb Merkels aus. Bald nach der Ankunft in Dorpat, im Herbst 1825, lernte Kreutzwald einen weiteren estnischen Medizinstudenten, Friedrich Robert Faehlmann, kennen – die beiden verband das Interesse an alten estnischen Volksliedern. Die ersten Dorpater Studenten estnischer Abstammung (F. R. Kreutzwald, J. Nocks, Dietrich Heinrich Jürgenson, vermutlich auch Philipp Jakob Karell und J. Kirnbach) schlossen sich zu einem kleinen Freundeskreis zusammen, in dem sich die Überzeugung festsetzte, dass es die Pflicht eines gebildeten Esten sei, seinem Volk treu zu bleiben. In Dorpat trat Kreutzwald auch der Studentenverbindung Estonia (gegründet 1821) bei, die Studenten aus dem Gouvernement Estland vereinigte. Zu den Mitgliedern dieser Verbindung gehörten auch D. H. Jürgenson, P. J. Karell, Eduard Ahrens, Georg Julius Schultz-Bertram u. a. Seine Sommer- und Winterferien verbrachte Kreutzwald in seinem Elternhaus auf dem Gut Wieso, wo er sich mit dem Sammeln von Volksliedern beschäftigte. Gerade dort, in der Gesellschaft der Jugendlichen von Weißenstein, heißt es, vergingen die Jahre seines „Sturm und Drang“. Anfang 1833 erhielt Kreutzwald, nach Bestehen der Prüfungen, das Arztdiplom 3. Klasse, bekam die Stelle des Stadtarztes von Werro und heiratete. In Werro blieb Kreutzwald bis 1877, seine alten Tage verbrachte er wieder in Dorpat. Werro, FamilieSeine Werroer Periode dauerte insgesamt 33 Jahre, und während all dieser relativ langen Zeit, vom März 1833 an, war Kreutzwald unter schwerer Arbeitslast als frei praktizierender Arzt tätig. Er erfüllte die Pflichten des Stadtarztes von Werro, später kamen die Aufgaben eines Arztes an der Privatschule von H. Krümmer noch dazu; hin und wieder musste er außerdem den Kreisarzt ersetzen und als Gesundheitsbeamter tätig sein. Kreutzwald war verheiratet mit Marie Elisabeth Saedler (1805–1888), einer gebürtigen Baltin. Sie hatten drei Kinder: Annette Adelheid (1834–1895), Friedrich Alexis (1845–1910) und Marie Ottilie (1836–1851). Die letztere, der sich Kreutzwald am engsten vebunden fühlte, starb unerwartet im Alter von nur 15 Jahren. In seiner Trauer über den Tod der jüngsten Tocher schrieb Kreutzwald 1853 die gefühlswarme Erzählung „Paar sammokest rändamise-teed“ („Ein paar Schritte auf der Wanderschaft“). Obwohl für die Erzählung das Werk „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“ (1790) des deutschen Schriftstellers Jean Paul als Vorbild gilt, stand die innovatorische lyrische Art dieses Textes in der damaligen estnischen Literatur jedoch alleine da. Seine ältere Tochter Annette Adelheid heiratete 1866 Gustav Blumberg (1834–1892), einen Schullehrer aus Dorpat, der später zu einem der engsten Gesinnungsgenossen Kreutzwalds im Familienkreis wurde. 1867 wurde in die Familie Blumberg eine Tochter geboren, Alice, die als Alleinerbin Kreutzwalds 1939 nach Deutschland umsiedelte. Kreutzwalds Sohn, der äußerlich seinem Vater sehr ähnliche Friedrich Alexis arbeitete zunächst als Telegraphenbeamter und wurde 1870 Chef des ersten Eisenbahnhofs in St. Katharinen, am Geburtsort seines Vaters. 1871 heiratete er Amalie Sophie von Husen (1853–1931), die Familie blieb kinderlos. Das ganze Schaffen Kreutzwalds ist zu einem großen Teil mit Werro verbunden, in dieser livländischen Kleinstadt sind alle seine wichtigsten Werke entstanden. Gleichzeitig wurde er im öffentlichen Leben von Werro zu einer einflussreichen Figur, die in entscheidenden Fragen oft zu Rate gezogen wurde. So übersetzte er z. B. 1863 das livländische Bauerngesetzbuch von 1860 ins Estnische und erhielt 1867 dafür ein Gedenkkreuz. Sein Wohnhaus in Werro wurde schnell zu einem Zentrum gesellschaftlichen Umgangs sowie zum Ort des kulturellen und politischen Austausches, und zwar vor allem zu Zeiten des Aufbruchs der estnischen nationalen Bewegung. Zu seinen Gästen in Werro zählten z. B. die aktivsten Bauern aus dem livländischen Kreis Fellin (Viljandi) (wegen der geplanten „Alexanderschule“), die Dichterin Lydia Koidula aus Dorpat und sogar Elias Lönnrot, der gleichaltrige Verfasser des Epos „Kalevala“ aus Finnland. In Werro hat auch der estnische Künstler Johann Köler aus Sankt Petersburg 1864 von Kreutzwald sein berühmtes Porträt gemalt. Kreutzwalds Pflichten als Stadtarzt von Werro endeten, als er 74 Jahre alt war. Er verkaufte sein Haus und zog im Juni 1877 mit seiner Frau nach Dorpat zu seiner Tochter, ins Haus der Blumbergs. In der Familie seiner Tochter setzte er seine aktive gesellschaftliche Tätigkeit fort, schrieb Beiträge für Zeitungen („Sakala“) und trat mit Vorträgen auf Versammlungen von Vereinen auf. Zu seinem 75. Geburtstag trafen von überall aus dem Land Grüße und Gratulationen ein. Legendär geworden ist seine Teilnahme am zweiten allestnischen Sängerfest im Jahre 1879, während dessen die Sänger ihn gemeinsam in seinem Haus aufsuchten, um ihn zu grüßen. 1882 unternahm Kreutzwald eine lange Reise nach Sankt Petersburg, wo er als Vertreter der Gelehrten Estnischen Gesellschaft (GEG) an Festlichkeiten des 50. Amtsjubiläums des kaiserlichen Leibarztes P. J. Karell teilnehmen sollte. Unterwegs erkältete er sich und erkrankte. Kreutzwald starb in Dorpat am 13. (25.) August 1882, er liegt begraben auf dem Raadi-Friedhof in Dorpat. Publizist, WissenschaftlerDie schöpferische Tätigkeit Kreutzwalds war facettenreich und produktiv und ist durch großen Umfang gekennzeichnet. Ende der 1830er Jahre begann er, publizistische Beiträge an verschiedene deutschsprachige Zeitungen des Baltikums zu liefern. Er sorgte auch für die Verbreitung der baltischen Kulturwochenschrift „Das Inland“ in Werro und war ein aktiver Mitarbeiter dieser Ausgabe. Aus seiner Feder erschienen im „Inland“ vor allem Mitteilungen über das örtliche Leben, Aufsätze über Volkssitten und -glauben u. ä. Seine scharfe, kritische Haltung gegenüber den herrschenden Verhältnissen verwickelte ihn oft in Konflikte mit Behörden. In seiner zweiten Lebenshälfte versuchte Kreutzwald bei der Gelehrten Estnischen Gesellschaft die Zeitung „Eesti Koit“ („Das estnische Morgenrot“) zu gründen, deren Erscheinen aber nicht genehmigt wurde. Auf dem Höhepunkt der estnischen nationalen Bewegung verfasste Kreutzwald auch Arbeiten für die Zeitung „Eesti Postimees“ von Johann Woldemar Jannsen in Dorpat sowie für die radikale Zeitung „Sakala“ von Carl Robert Jakobson in Fellin. Kreutzwalds wissenschaftliche Tätigkeit ist eng mit der Gelehrten Estnischen Gesellschaft verbunden. Er trat der GEG im Jahre 1839 bei, ein Jahr nach deren Gründung, und wurde schnell zu einem der aktivsten Mitglieder dieser Gesellschaft. Zu seinen Interessen gehörten v. a. estnische Volksdichtung und archäologische Denkmäler. Im Rahmen der Tätigkeit der GEG setzte Kreutzwald seine alte Gewohnheit, das Sammeln von Folklore fort, legte die Ergebnisse dieser Arbeit auf Versammlungen der Gesellschaft vor und publizierte Aufsätze darüber in den Veröffentlichungen der GEG. Auch organisierte Kreutzwald in der Umgebung von Werro archäologische Ausgrabungen und trat mit Berichten darüber vor der GEG auf. Ab 1850, im Zusammenhang mit Debatten über die alte und neue Orthographie, nahm Kreutzwalds Ansehen als Kenner der estnischen Sprache zu. Es ergaben sich für ihn Kontakte zu den Kreisen der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg und er wurde Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften. Unter seiner Mithilfe und im Auftrag der Akademie der Wissenschaften wurden ethnographisch-statistische Angaben über die Esten in Setumaa im Gouvernement Pleskau (Pskow) (im südöstlichen Zipfel des estnischen Sprachgebiets), in Lettland und anderenorts gesammelt; er half Karl Ernst von Baer bei dessen Erforschung der Fische in den Seen von Werro; er lieferte Ferdinand Johann Wiedemann linguistisches Material für dessen estnisch-deutsches Wörterbuch, half Alexander Heinrich Neus bei der Zusammenstellung von Anthologien estnischer Volkslieder und versah das Werk „Der Ehsten abergläubische Gebräuche, Weisen und Gewohnheiten“ von Johann Wolfgang Boecler mit Anmerkungen. In den 1860er Jahren wurden Kreutzwalds Kontakte zu den akademischen Kreisen in Russland und Finnland sowie zu Persönlichkeiten der estnischen nationalen Bewegung enger und tiefer. Um diese Zeit wurde er als Klassiker der estnischen Literatur und Träger des estnischen nationalen Gedankenguts zu einer unumstrittenen Autorität: Er verfolgte mit Interesse die Veranstaltungen der nationalen Bewegung, unterstützte die geistigen Bestrebungen der jüngeren estnischen Literatengeneration (L. Koidula, J. Hurt, M. Veske, A. Weizenberg, J. Köler, C. R. Jakobson), organisierte materielle Unterstützung für die Studien junger begabter Esten, gab Anregungen zur Förderung des estnischen Kulturlebens. 1872 wurde er zum Ehrenpräsidenten des Estnischen Literatenvereins (Eesti Kirjameeste Selts) sowie zum Ehrenmitglied des Felliner Vereins der estnischen Landwirte (Viljandi Eesti Põllumeeste Selts) gewählt. 1873 wurde in Werro sein 70. Geburtstag in Anwesenheit führender Persönlichkeiten aus estnischen Vereinen u. a. festlich begangen. Volksaufklärerische SchriftenIm umfangreichen literarischen Schaffen Kreutzwalds lassen sich zwei große Seiten unterscheiden: die gesellschaftlichen, volksaufklärerischen Schriften einerseits und die romantischen, lyrischen Texte andererseits. Während der ganzen schöpferischen Periode Kreutzwalds lässt sich zudem eine bewusste und zielgerichtete missionarische Tätigkeit zur Förderung der estnischen Literatur beobachten. Als junger Schriftsteller übersetzte und adaptierte er für die estnischen, v. a. ländlichen Leser didaktische Erzählungen, was eine Begegnung der bisher an kirchliches Schriftum gewöhnten Esten mit zeitgenössicher deutscher romantischer Unterhaltungsliteratur und Volksbüchern ermöglichte. Kreutzwald war der Ansicht, dass dem estnischen Lesepublikum die Lektüre angeboten werden sollte, die verständlich und auch erschwinglich ist. Seine ersten estnischsprachigen Werke waren Volksbücher im Auftrag und Verlag der Gelehrten Estnischen Gesellschaft: als Vorlage seiner Erzählung „Wina-katk“ (1840), die gegen den übermäßigen Alkoholkonsum der Bauern das Wort ergreift, gilt in der Forschung das gleichnamige Buch „Die Brannteweinpest“ (1837) des schweizerischen Autors Heinrich Zschokke. Um diese Zeit entstand aus auch ein anderes Werk von Kreutzwald, der Sammelband „Sippelgas“ I („Die Ameise“), der jedoch erst im Jahre 1843, nach einer über zwei Jahre dauernden Zensursperre, erscheinen durfte. „Sippelgas“ enthält ein buntes Allerlei an geistbildenden Lesestücken und verschiedenen praktischen Tipps. So etwa ermutigt der Autor die Bauern zur Strebsamkeit, gibt ihnen Anweisungen zur Kindererziehung und Gesundheitspflege, zum Brotbacken usw., schreibt über die Abstinenz von Alkohol und sogar über die Entdeckung von Amerika. Der etwa 20 Jahre später erschienene zweite Teil des Sammelbandes (1861) hatte einen gesellschaftlich aktuelleren Inhalt: hier wurden die Vorteile der neuen Rechtschreibung dargelegt, die Gefahren der Auswanderung ausgeleuchtet und der Versuch gemacht, die Bauern zur landwirtschaftlichen Tätigkeit vor Ort anzuregen. Geschrieben wurde auch über das Urbarmachen von Sümpfen, den Wert der estnischen Volkspoesie usw. Ähnliche didaktische Schriften allgemeinbildenden und medizinischen Inhalts publizierte Kreutzwald neben seinen übrigen Werken im Verlag des Dorpater Druckers Heinrich Laakmann auch in späteren Jahren. Zu diesen Schriften gehören z. B. „Maa- ja merepildid“ I–III („Land- und Seebilder“, 1850–1861), „Risti-söitjad“ („Die Kreuzfahrer“, 1851), „Teejuhhataja Ämma-kooliliste õpetuse jures“ („Ein Wegweiser zur Hebammenlehre“, 1852), „Lühhikene öppetus terwisse hoidmissest“ („Eine kurzgefasste Lehre über die Gesundheitspflege“, als 3. Teil des Lehrbuchs „Koli-ramat“ von J. G. Schwartz, 1854) und „Kodutohter“ („Der Hausarzt“, 1879). Im Jahre 1863 gab Kreutzwald auf nordestnisch (revalestnisch) das Abc- und Lesebuch für Kinder „Uus Tallinna maa-keele ABD ja lugemise raamat lastele“ heraus. Eine der wichtigsten Ausgaben in Kreutzwalds Werken dieser Richtung ist die populärwissenschaftliche Serie „Ma-ilm ja mõnda, mis seal sees leida on“ I–V („Die Welt und so manches, was es darin zu finden gibt“, 1848–1849), die Kreutzwald auf Antreiben des Verlegers Laakmann nach dem Vorbild der populären deutschen illustrierten Zeitschrift „Das Pfennig-Magazin“ zusammenstellte. Die Ausgabe erschien in fünf Lieferungen und informierte die Leser über allerlei Wissenswertes: über den Weltraum und die Natur, über die Errungenschaften von Technik und Wissenschaft (Eisenbahn, Elektrizität, Druckkunst u. a.) sowie über das Ausland, dessen Bewohner und exotische Tiere. Es gab gesundheitliche und ökonomische Hinweise sowie Lesestücke über interessante Naturphänomene, historische Begebenheiten und Denkmäler. Die inhaltsschwere, reichlich bebilderte Ausgabe war ein Novum in der bisherigen Lektüre der estnischen Leser. Die Ausgabe stieß auf reges Interesse und erreichte eine große Verbreitung. Das erste Heft der Reihe erschien schon 1855 in einer zweiten Auflage, das zweite und das dritte Heft erschienen neu aufgelegt jeweils 1867 und 1869 (die Ausgabe wurde 1852–1860 auch ins Lettische übersetzt). Eine wichtige Stelle unter seinen volksaufklärerischen Werken nehmen Schriften medizinischen Inhalts sowie Arztbücher ein. So war z. B. das Handbuch „Teejuhhataja Ämma-kooliliste õpetuse jures“, das Kreutzwald im Auftrag der Livländischen Ritterschaft ins Estnische übersetzt hatte, für Geburtshelfer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein gefragtes Lehrmaterial (das Werk wurde 1870, 1883 und 1890 neu aufgelegt). In verschiedenen Neuauflagen erschien auch sein Buch „Lühhikene öppetus terwisse hoidmissest“, das allgemeine Ratschläge zur Gesundheitspflege enthält (über Reinlichkeit, gesunde Lebensart und Mäßigkeit), und sein schon zum Lebensabend entstandenes Buch „Kodutohter“, das eine Übersicht über verbreitete Krankheiten, deren Ursachen und Behandlung gibt. Zur Ergänzung dieser zwei Bücher wollte Kreutzwald noch ein drittes, „Pikem õpetus organite loomuliku olemise ja toimetuste üle“ („Eine längere Lehre über das natürliche Funktionieren der Körperorgane“), schreiben, das er jedoch nicht mehr fertig stellen konnte. Eine der populärsten estnischsprachigen Volksausgaben des 19. Jahrhunderts war der in Dorpat bei Laakmann erschienene „Kasuline Kalender“ („Der nützliche Kalender“), dessen Redaktion über zwanzig Jahre hinweg (1846–1859, 1864–1874) in Kreutzwalds Händen lag. Hier erschienen die Erstfassungen der meisten seiner belletristischen Texte, bevor sie in Buchform herauskamen. Außer verschiedenen didaktischen Aufsätzen und Versen (den sog. Monatsgedichten – kuusalmikud) erschienen im Kalender auch die meisten seiner Erzählungen: „Reinowadder Rebbane“ („Reineke Fuchs“, 1848–1851), „Üks ööpilt“ („Ein Nachtbild“, 1853), „Videvik“ („Zwielicht“, 1854), „Põllumees ja ametmees“ („Landmann und Amtmann“, 1858), „Tuisulased“ („Die Stöberer“, 1859), „Mihkel Põllupapp“ (1865–1873) und „Uus koolmeister“ („Der neue Schulmeister“, 1874). Laakmanns Kalender entwickelte sich zu einem der meist gelesenen estnischsprachigen Kalender der damaligen Zeit, und zwar zu einem großen Teil gerade dank der regelmäßigen Beiträge Kreutzwalds. So wurde z. B. der Kalender von 1874, der seine Erzählung „Uus koolmeister“ enthielt, sechs Mal aufgelegt, mit einer Gesamtauflage von 18 400 Exemplaren. Mit seinen Kalenderstücken avancierte Kreutzwald zu einem der wichtigsten Autoren, die die frühen Lesegewohnheiten der Esten mit geprägt haben. Zu den beliebtesten Kalendergeschichten aus Kreutzwalds Feder gehören die Geschichten über Reineke Fuchs, „Reinowadder Rebbane“, die der Autor nach dem Vorbild des bekannten mittelalterlichen westeuropäischen Tierepos estnischen Verhältnissen angepasst hatte. Er ließ die Handlung vor einem lokalen Hintergrund stattfinden und flocht einige estnische Märchen und Helden aus Volkserzählungen mit hinein. In diesem Text treibt Kreutzwald seinen Spott mit einigen „offiziellen“ Heiligtümern – dem Gericht und der Kirche –, und macht sich lustig über allgemeinmenschliche Laster. Diese hier von Kreutzwald zum ersten Mal angewandten Mittel, Humor und Satire, bereicherten die estnische Originalliteratur um eine neue Stilebene, die es in der früheren, für die estnische Bevölkerung geschaffenen Lektüre so noch nicht gegeben hatte. Kreutzwalds „Reinowadder Rebbane“ erschien in seiner Urfassung im „Kasuline Kalender“ 1847–1850, als selbständiges Buch 1851. Zu Kreutzwalds Lebzeiten erschien der Text in insgesamt fünf Auflagen (in etwa 10 000 Exemplaren) Ein anderes großes Verdienst Kreutzwalds besteht in der Erschließung der im deutschen Literaturraum verbreiteten Unterhaltungslektüre für die estnische Leserschaft. Zu einem der populärsten Schmöker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Kreutzwalds Adaption des Volksbuches „Geschichte von der heiligen Pfalzgräfin Genovefa“ (1838) von G. O. Marbach, „Wagga Jenowewa ajalik elloaeg“ („Das zeitliche Leben der frommen Genovefa“, 1842). Obwohl es neben Kreutzwalds „Jenowewa“ von diesem deutschsprachigen Original auch andere estnische Übersetzungen anderer Autoren gab, war seine Adaption am beliebtesten und erschien in mehreren Neuauflagen (die Gesamtauflage dieses Buches erreichte nahezu 20 000 Exemplare). Für den Status Kreutzwalds als aktiver und geliebter Schriftsteller ist auch die Rolle festzuhalten, die er für die Entwicklung der estnischen Schriftsprache spielte. 1852 stellte Kreutzwald sich auf die neue, an finnischem Vorbild orientierte Rechtschreibung um und verwendete sie seitdem konsequent in allen seinen volksaufklärerischen und sonstigen Schriften. Auf seine Empfehlung hin wurde die neue Ortographie etwas später auch von C. R. Jakobson angenommen. In allen Bereichen, wo Kreutzwald das Wort ergriff, schuf er eine Vielzahl neuer Wörter (palavik (Fieber), organ (Organ), reuma (Rheuma), laviin (Lawine), röövik (Raupe), kilpkonn (Schildkröte), kristlane (Christ), täheldama (beobachten, merken) u.a.) und bereicherte somit die estnische Schriftsprache in erheblichem Maße. BelletristikSeine ersten belletristischen Versuche schrieb Kreutzwald im Alter von zwanzig Jahren auf deutsch, sein frühestes bekanntes Gedicht stammt aus dem Jahr 1824. Einige Texte jener Zeit gelangten später auch als Eigenübersetzungen Kreutzwalds in seinen estnischsprachigen Lyrikband „Wiru lauliku laulud“ („Gesänge des Sängers aus Wierland“, 1865). Das Dichten in deutscher Sprache setzte Kreutzwald als Student in seiner Dorpater Periode fort und einige seiner deutschsprachigen romantischen Gedichte und Balladen wurden unter dem Pseudonym K. Friedhold in den Beilagen der Wochenschrift „Das Inland“ auch abgedruckt (1846). Zu ähnlichen Versuchen gehörte auch seine deutschsprachige Ballade „Kalew’s Sohn“ (1836), über einen ungestalten Recken namens Kalevipoeg aus Wierland. Womöglich hat seiner Laufbahn als deutscher Dichter gerade die vernichtende Kritik des „Inlands“ ein Ende gesetzt, wodurch sich auch seine Beziehung zur Redaktion der Wochenschrift abkühlte. Das gesamte übrige belletristische Schaffen Kreutzwalds ist einsprachig estnisch und zeigt oft Impulse fremdsprachiger Vorbilder. Für das Zeitalter typisch, balanciert es auf der Grenze zwischen Original und Übersetzung. Das erste Werk, das Kreutzwald als selbständiges Buch veröffentlichte, war eine Adaption nach Gottfried August Bürgers gleichnamiger Vorlage, die düster-romantische Ballade „Lenora“ (1861), die von der zeitgenössischen Leserschaft wohlwollend aufgenommen wurde – eine Geschichte über eine Soldatenbraut, die mit ihrem harten Schicksal hadert. Das Buch erschien 1872 auch in einer Neuauflage. Neben Übersetzungen und Adaptionen nahm auch die Zahl seiner Originalschöpfungen allmählich zu. In den 1860er Jahren erschienen seine Lyrikbände „Angerwaksad“ und „Wiru lauliku laulud“ sowie seine beiden Hauptwerke, das Epos „Kalewi poeg“ (1862) und die Märchen- und Sagensammlung „Eestirahwa Ennemuistsed jutud“ (1866), im nächsten Jahrzehnt, außer seinem zweibändigen Lyrikbuch „Rahunurme Lilled“ I–II („Blumen auf der Friedensflur“), folgten auch seine Dramenübersetzungen „Tuletorn“ und „Wanne ja õnnistus“. Diese Texte befriedigten schon den Geschmack eines anspruchsvolleren Publikums. Aus Anlass des 50. Jubiläums der Universität Dorpat wurde von der GEG Kreuzwalds Grußgedicht „Tarto Alma materile wiekümne aasta lõppetuse rõemo-pühhal“ (nebst der deutschen Parallelfassung Kreutzwalds „Gratulations-Gedicht zur fünfzigjährigen Jubelfeier der Kaiserlichen Universität Dorpat“) herausgegeben. Da gegen den Willen des Autors darin die alte Ortographie verwendet worden war, erschien der Text 1853 auf Kreutzwalds Forderung hin auch in der zweiten, unveränderten Auflage und diesmal schon in der ursprünglichen, d. h. neuen Schreibweise. Das epische Gedicht „Söda“ („Der Krieg“, 1854) verfasste Kreutzwald anlässlich des Krimkrieges, der kurz zuvor (1853) ausgebrochen war. Wie auch die (unveröffentlicht gebliebene) Urfassung des Epos „Kalevipoeg“ („Alg-Kalevipoeg“, 1853), ist „Söda“ im Metrum des älteren estnischen Volksliedes (regivärss) gehalten. Zum ersten Mal nennt sich Kreutzwald hier auf dem Titelblatt und im Text den „alten Sänger aus Wierland“ (vana Viru laulik). In „Söda“ werden die Feinde Russlands, die Türken, Engländer und Franzosen verspottet und das Russische Kaiserreich mit seinem „großen und tapferen Kaiser“ bejubelt. Das Kriegsthema wird im Zusammenhang mit der Geschichte des estnischen Landes, den Traditionen der estnischen Bevölkerung und vor dem Hintergrund der persönlichen Erlebnisse des Autors behandelt. Das Gedicht wurde ein Erfolg, 1861 gab Laakmann ohne Wissen des Autors davon eine zweite Auflage heraus. Im Metrum des älteren estnischen Volksliedes schrieb Kreuzwald auch einige weitere Gedichte, z. B. die Ballade „Koit ja Hämarik“ („Morgenrot und Abendrot“) nach Motiven einer Sage Faehlmanns und zum Gedenken an seine Tochter, der auch seine romantische Erzählung „Paar sammokest rändamise-teed“ (1853) gewidmet war. In Kreutzwalds Adaption „Kilplaste imevärklikud, väga kentsakad, maa-ilmas kuulmata ja tännini veel üleskirjutamata jutud ja teud“ („Die wunderlichen, sehr drolligen, in der Welt unerhörten und bisher noch unaufgezeichneten Geschichten und Taten der Schildbürger“, 1857) wurde aus dem deutschen satirischen Volksbuch „Die Schildbürger“ ein wahrhaft volkstümliches Werk, in dem einige dem damaligen Leben der Esten eigentümliche Erscheinungen, wie das Möchtegerndeutschtum („kadakasakslus“), schlechte Literatur und die alte Rechtschreibung dem Spott ausgesetzt wurden. Die Geschichten über die schrulligen Taten der Schildbürger wurden allgemein bekannt und mit dem von Kreutzwald erfundenen Wort „kilplased“ wurden nunmehr dumme und verschrobene Menschen bezeichnet. Durch Torheit und Hochmut der Schildbürger erhielt jegliche geistige Beschränktheit jetzt einen treffenden Namen. Das Buch erschien im Jahre 1878 in einer zweiten Auflage. Kreutzwalds Gedichtband „Angerwaksad“ („Mädesüße“, 1861) enthielt seine schon in früheren Zeiten entstandenen Übersetzungen von Goethes und Schillers Lyrik sowie sein später in verschiedene estnische Anthologien gelangtes Originalgedicht „Wiru laulik“ („Der Sänger aus Wierland“). In den folgenden Gedichtband „Wiru lauliku laulud“ (1865) nahm Kreutzwald seine vormals in allerlei Sonderausgaben, Volksbüchern und Kalendern erschienenen Verse auf, fügte auch neue Übersetzungen von Gedichten deutscher Romantiker (N. Lenau, L. Uhland, W. Hauff, F. Freiligrath u. a.) bzw. seine eigene, nach dem Vorbild dieser Autoren verfasste Poesie hinzu. „Wiru lauliku laulud“ gilt heute als der erste künstlerisch wertvolle Gedichtband in der estnischen Literatur. Charakteristisch für das Alterswerk Kreutzwalds ist sein tiefer werdendes Interesse an religiösen und philosophischen Fragen. Sein Gedichtband „Rahunurme Lilled“ I–II (1871–1875) enthält Übersetzungen aus J. W. Witschels rationalistischer Glaubenslyrik; am Vorbild der epischen Dichtung „Buddha“ (1869) des österreichisch-schweizerischen Autors J. W. Widmann orientiert sich der Anfang seines Poems „Lembitu“, aus dem eine Art poetischer Zusammenfassung seines Werdegangs, seiner Lebensauffassung und seiner Ansichten werden sollte. Das Werk blieb unvollendet und erschien posthum erst im Jahre 1885 (Neuauflage 2003). Mit großem Interesse verfolgte Kreutzwald die Geburt des estnischen Theaters. Schon bevor das erste estnische Schauspiel, Lydia Koidulas „Saaremaa Onupoeg“ („Der Vetter von Ösel“, 1870), von der Dorpater Theatergesellschaft „Vanemuine“ aufgeführt worden war, hatte Kreutzwald zwei Theaterstücke angefertigt: „Tuletorn“ und „Wanne ja õnnistus“ – beide Werke entstanden im Jahre 1864 und beide waren zugleich Übersetzungen der Verstragödien „Der Leuchtturm“ (1821) und „Fluch und Segen“ (1820) des erfolgreichen deutschen romantischen Autors Ernst von Houwald. Die erstere dieser Übersetzungen hatte Kreutzwald auch 1868 an Lydia Koidula zur Einsicht nach Dorpat geschickt. Die beiden Stücke gelangten Anfang der 1870er Jahre in den Druck. GroßwerkeZeitgleich mit dem Herausgeben seiner ersten volksaufklärerischen Schriften begann Kreutzwald, sich mit dem Bearbeiten estnischer Volkslieder und -geschichten zu beschäftigen. Er fügte neue historische und mythologische Motive hinzu und formulierte seine eigenen Vorstellungen in einer der Volksdichtung nachempfundenen Form. Diese neue Richtung in seinem Schaffen erwies sich als fruchtbar. Indem er aus der estnischen Folklore schöpfte und sie künstlerisch umgestaltete, schuf Kreutzwald seine wichtigsten Werke: „Kalewipoeg“ (1857–1861) und „Eestirahwa Ennemuistsed jutud“ (1866), und begründete damit die estnische nationale Originalliteratur. Der schon in den 1830er-Jahren in den Kreisen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft entstandene Gedanke, die dem Volksmund entstammenden Geschichten über den Recken Kalevipoeg zu sammeln und das mutmaßlich einstmals gewesene Epos der Esten wiederherzustellen, wie es hieß, wurde von Kreutzwald realisiert. Die Urfassung der Handschrift, der sog. „Ur-Kalevipoeg“ wurde im November 1853 fertig, konnte wegen Zensurschwierigkeiten jedoch nicht gedruckt werden. Die inzwischen gründlich umgearbeitete endgültige Fassung des Epos erschien schließlich in den Jahren 1857–1861 heftweise in den Verhandlungen der GEG mit einer deutschen Parallelübersetzung von Carl Reinthal. Der wissenschaftlichen Ausgabe mit einer kleinen Auflage wurden von der Zensur keine Hindernisse mehr in den Weg gelegt. Auf Vorschlag der Akademiker Anton Schiefner und F. J. Wiedemann wurde dem zu dem Zeitpunkt erst teilweise erschienenen Werk im Jahre 1860 der Demidow-Preis der Russischen Akademie der Wissenschaften verliehen. Als Volksausgabe in nunmehr ausschließlich estnischer Sprache kam das Epos dank der Unterstützung der akademischen Kreise aus Sankt Petersburg 1862 im finnischen Kuopio heraus. Die Verbreitung des „Kalevipoeg“ war zunächst beschränkt, die 1000 Exemplare der Gesamtauflage der Volksausgabe reichten für etwa zehn Jahre. Zur Verbesserung der Verbreitung und zur Verdeutlichung des Inhalts des Epos veröffentlichte Kreutzwald 1869 das Büchlein „Lühikene seletus Kalewipoja laulude sisust“, mit dem er eine in Prosaform gehaltene Inhaltsübersicht des Epos lieferte. Erst von der jüngeren estnischen Intellektuellengeneration (J. Hurt, C. R. Jakobson, L. Koidula, P. Blumberg, M. Veske u.a.) wurde der „Kalevipoeg“ mit großer Begeisterung empfangen. Das Epos wurde uneingeschränkt anerkannt und als Nachweis für Entwicklungsvermögen und Lebensrecht des estnischen Volkes hervorgehoben. Auch das Interesse breiterer Bevölkerungsschichten am „Kalevipoeg“ nahm allmählich zu. 1875 erschien das Epos, dessen Text der Autor hier und da korrigiert hatte, schon in der dritten Auflage. Das zweite Hauptwerk Kreutzwalds, seine Märchen- und Sagensammlung, „Eesti rahva ennemuistsed jutud“, entstand zu einem Großteil in den 1850er Jahren. Möglichkeiten zur Herausgabe des Buches gab es fast keine. In den Jahren 1860–1865 konnte ein kleiner Teil der Märchen, vielen Zensurproblemen zum Trotz, in einzelnen Lieferungen jedoch herausgegeben werden: „Eesti-rahwa Ennemuistsed jutud“ I (1860), II und III (beide 1864). Als vollständige Ausgabe erschien die Sammlung 1866 wiederum in Finnland, in Helsingfors (Helsinki), mit der Unterstützung der Finnischen Literaturgesellschaft. Das bis dahin umfangreichste Werk in der estnischen Literatur trat somit vor seine Leser. Die Auflage des Märchen- und Sagenbuches betrug 500 Exemplare, die Verbreitung war gut. 1875 erschien das Buch in Laakmanns Verlag in zweiter Auflage (1500 Exemplare). Schon zu Kreutzwalds Lebzeiten erschienen von dem Werk Übersetzungen in andere Sprachen (auf deutsch 1869–1881: „Estnische Märchen“ I, „Estnische Märchen“ II, übersetzt von Ferdinand Löwe, kommentiert von A. Schiefner). ZusammenfassungObwohl Kreutzwald noch zur Zeit der Niederschrift des „Kalevipoeg“ nicht einmal an den Fortbestand des estnischen Volkes glaubte, konnte er während seines Lebens doch ein Aufsprießen des nationalen Gefühls und den Anbruch eines neuen, nationalen Zeitalters – die sog. Zeit des Erwachens – miterleben. Die existentialistische, umfangreiche und produktive literarische Tätigkeit Friedrich Reinhold Kreutzwalds über etwa vierzig schöpferische Jahre hinweg, vor allem aber sein Schaffen des Epos „Kalevipoeg“, dessen literarische Qualität sich durchaus mit der der Spitzen der damaligen romantischen Dichtung Europas messen lässt, bleiben in ihrer Größe unschätzbar. Marin Laak |