Lebenslauf
Nikolai Karamsin wurde am 1. (12.) Dezember 1766 in der Nähe von Simbirsk in der Familie des russischen Gutsbesitzers Michail Karamsin, eines Hauptmannes a. D., geboren. Nach dem frühen Tod seiner Mutter heiratete sein Vater eine Tante Iwan Dmitriews, eines späteren Freundes und Dichterkollegen von Nikolai Karamsin. Aus der Ehe gingen insgesamt sechs Kinder hervor. Nach dem Aufenthalt in einer Pension in Simbirsk brachte man Karamsin nach Moskau und gab ihn bei dem Professor Johann Matthias Schaden in Pension. So wurde dem späteren Schriftsteller und Historiker eine gründliche Bildung zuteil, er lernte Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch und besuchte im letzten Pensionsjahr sogar Universitätsvorlesungen.
Im Jahre 1783 zog Karamsin nach Sankt Petersburg, wo er im Preobraschenski-Regiment diente. Schon im gleichen Jahr musste er wegen des Todes seines Vaters um Entlassung bitten. Aus dieser Zeit stammt sein erster erhaltener literarischer Versuch: das Gedicht „Деревянная нога“ – eine Übersetzung der deutschsprachigen Idylle „Das hölzerne Bein“ des Schweizer Dichters und Künstlers Salomon Gessner.
Ende 1783 wieder in Simbirsk, lernte Karamsin den Übersetzer und Freimaurer Iwan Turgenjew kennen, den späteren Rektor der Moskauer Universität, der laut Dmitriew „ihn ermahnte, auf das fröhliche Treiben in Gesellschaften sowie auf das Kartenspiel zu verzichten“ (Eidelman: 31). Der junge Karamsin zog mit ihm nach Moskau, wo er Zugang zu Freimaurerkreisen fand und den berühmten Verleger Nikolai Nowikow kennenlernte. Nowikow spornte ihn zu übersetzerischer Tätigkeit an und beschäftigte ihn bei der Herausgabe der ersten russischen Kinderzeitschrift „Детское чтение“ („Kinderlektüre“). Karamsin übersetzte Shakespeares „Julius Caesar“ (1787) und Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ (1788) und trat am 18. Mai 1789 von Moskau aus eine Europareise an.
Reisender
Die Vorstellung von Karamsins Reise geht zu einem Großteil zurück auf seinen Reisebericht „Письма русского путешественника“ („Briefe eines russischen Reisenden“), der in den Jahren 1791–1792 in seiner Zeitschrift „Московский журнал“ erschien. Wie es mit der Resonanz auf seine Schriften oft geschah, hielt man auch seine „Briefe“ für einen Text von echtem autobiographischem Gehalt, zudem wurde diese Lesart auch vom Autor selbst begünstigt. Die unterwegs mit einem Bleistift auf kleine Zettelchen aufgezeichneten Briefe wurden in Wirklichkeit sorgfältig komponiert und nachträglich vom Autor selbst redigiert. Der Verfasser der Briefe wird als naiver und verantwortungsvoller junger Mann, als gelehrter Geck beschrieben, dessen Reise den Wert einer kulturellen Initiation habe. Karamsin hatte nicht vor, eine Sammlung von Briefen anzulegen, die nur aus informativen Angaben bestünden, sondern wollte vielmehr nach neuen individuellen Erlebnissen suchen. Das rückt sein Buch in die Nähe der „Empfindsamen Reise“ Laurence Sternes („A Sentimental Journey Through France and Italy“, 1768), deren Ich-Erzähler Yorick in den „Briefen“ auch immer wieder erwähnt wird. Der belletristische Charakter der „Briefe“ zeigt sich auch darin, dass Karamsins Schilderungen (die nicht so selbstgenügsam sind wie die Sternes) stets auf das Spiel der Vorstellungskraft sowie auf bestimmte literarische Vorbilder (z. B. in der gotischen Schilderung des Waldschlosses oder während des Klosteraufenthalts) verweisen.
Nach Ansicht Juri Lotmans war die Wendung in Richtung auf Voltaires „Philosophische Briefe“ („Lettres philosophiques“, 1734) für Karamsin von grundsätzlicher Bedeutung, dennoch geht es dem Autor nicht um die Betonung der Unterschiede zwischen den europäischen Völkern (nach der für Voltaire typischen Opposition „leichtsinniger Franzose“ vs. „vorbildlicher Engländer“, sondern vielmehr um „die Idee der zivilisatorischen Einigkeit, die aus diesen Unterschieden entwächst“ (Lotman: 536). Karamsin fragt nicht nach der europäischen Kultur als Ganzem, auch wenn einzelne Völker immer wieder von ihm miteinander verglichen werden. In seiner Sichtweise steht die westeuropäische Erfahrung der russischen Erfahrung nicht gegenüber, sondern wird gerade dank der „Briefe“ Teil der russischen Kultur. So erschließt Karamsin, später von der Kritik auch der „neue Sterne“ genannt, in feiner, innovativer Form und emotional bereichert dem russischen Lesepublikum die Kultur Deutschlands, der Schweiz, Frankreichs und Englands.
Der Protagonist der „Briefe eines russischen Reisenden“ besucht Königsberg, Berlin, Dresden, Weimar, Frankfurt, Zürich, Genf, Lyon, Paris und London. Einen wichtigen Teil des Buches bilden seine Gespräche mit bekannten Persönlichkeiten der gelehrten Welt. So begegnet Karamsin Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Christoph Martin Wieland, Johann Kaspar Lavater (mit dem er schon von Moskau aus einen Briefwechsel führte) und unterhält sich ausführlich mit ihnen. Er besucht Sitzungen der Französischen Nationalversammlung (und sieht dort vermutlich auch Mirabeau und Robespierre), verkehrt mit dem deutschen Literaten und Herausgeber Friedrich Nicolai, dem deutschen Philosophieprofessor Ernst Platner und dem französischen Schriftsteller Marmontel, sieht Marie-Antoinette und beschreibt Sitzungen des Unterhauses des englischen Parlaments.
Nach der Rückkehr nach Russland (im Juni 1790) änderte sich der Status Karamsins von Grund auf. Wenn man früher von seiner Schülerrolle (bei seinen freimaurerischen Freunden Turgenjew, Nowikow und Kutusow) reden konnte, so galt er jetzt bereits selbst als Fachmann und Meister.
Die „Briefe eines russischen Reisenden“ sind nach dem Erscheinen der Erstauflage immer wieder neu aufgelegt worden, sei es als Gesamtwerk oder in Einzelteilen. Als beste Ausgabe der „Briefe“ in wissenschaftlicher Hinsicht gilt die von Juri Lotman mit einem Begleitwort versehene, 1984 in der Reihe „Литературные памятники“ herausgegebene Textfassung. In estnischer Sprache ist von Karamsins Reisebericht nur ein auf den 31. Mai 1789 datierter Brief erschienen, übersetzt von Hans Vanaveski für den Sammelband „Postitõllaga läbi Eestimaa“ („Mit der Postkutsche durch Estland“, 1971) von Sergei Issakow. Karamsin interessiert uns aber im baltischen Zusammenhang nicht nur als russischer Schriftsteller auf Durchreise, sondern auch als Freund von Jacob Michael Reinhold Lenz.
Karamsin und Lenz
Karamsin lernte Lenz im Kreis der Moskauer Freimaurer kennen. Die beiden Schriftsteller wohnten im selben Haus in der Kriwokolennyj-Gasse. Es ist wahrscheinlich, dass sich Karamsin gerade dank Lenz und dessen Geschichten über deutsche Schriftsteller jene „Bewandertheit“ in der deutschen Literatur angeeignet hat, von der auch Lotman schreibt (Сотворение Карамзина: 52). In Karamsins Texten gibt es Hinweise auf Lenz’ Werke, die damals im deutschsprachigen Teil Europas schon im Begriff waren in Vergessenheit zu geraten. So erwähnt Karamsin am Anfang der „Briefe eines russischen Reisenden“ (im Brief aus Riga vom 31. 5. 1789) das „Gedicht des sechzehnjährigen L.“, unter dem Lenz’ Gedichtzyklus „Die Landplagen“ zu verstehen ist, der im Jahre 1769 in Königsberg erschienen war. Der Titel der Prosaelegie „Цветок на гроб моего Агатона“ („Eine Blume auf das Grab meines Agathon“, 1792), verfasst anlässlich des Todes eines Freundes von Karamsin, Alexander Petrows, erinnert an Lenz’ Nachruf „Etwas über Philotas Charakter (Ein Veilchen auf sein Grab),“ (1781), der einem Freund von Lenz, einem Baron von Vietinghoff gewidmet ist. Auch ließe sich darüber spekulieren, ob sich der Selbstmordversuch Gustchens in Lenz’ Komödie „Der Hofmeister“ in Karamsins Erzählung „Бедная Лиза“ („Die arme Lisa“, 1792) realisiert haben könnte (Motiv des Ertrinkens).
Das von Lenz über die deutsche Literatur Erzählte kann in gewissem Maße Vorbild gewesen sein für die Art und Weise, wie sich der russische Reisende im deutschsprachigen Teil Europas verhielt. Einer scharfsichtigen Beobachtung Lotmans zufolge fehlt Karamsin, der sich in Weimar lebhaft für Herder und Wieland interessiert und vielen Schwierigkeiten zum Trotz auch die Gelegenheit findet, mit ihnen zu einem Gespräch zusammenzukommen, die Energie, um sich mit Goethe zu treffen (der damals, wie bekannt, schon seit Jahren mit Lenz zerstritten war). Andererseits besucht Karamsin in Königsberg – in Lenzens Studienstadt – Immanuel Kant, den Lenz für seinen Lehrer hielt und dem zu Ehren er im Namen aller liv- und kurländischen Studenten 1770 auch eine Ode verfasst und publiziert hatte.
Matwei Rosanow, der russische Lenz-Biograph, zitiert in seiner Monographie (russische Originalfassung: 1901, deutsche autorisierte Übersetzung: 1909) Lenz’ Brief an seinen älteren Bruder in Dorpat (Tartu) (Mitte 1789). Lenz bittet den Oberpastor der Johanniskirche und den späteren Estnisch-Lektor Friedrich David Lenz darum, für den durchreisenden Karamsin den Aufenthalt in Dorpat „recht angenehm“ zu machen. Lenz teilt seinem Bruder mit, Karamsin „liebt die deutsche Sprache vorzüglich, spricht und schreibt sie wie ein geborner Deutscher“. Der Dorpater Bruder wird auch in den „Briefen“ erwähnt, aber nicht direkt: „Der hiesige Oberpastor ist der Bruder des unglücklichen L. Er ist bei jedermann beliebt und hat gute Einkünfte. Erinnert er sich wohl an seinen Bruder?“ Man kann vermuten, dass Karamsin und Friedrich David Lenz einander in Dorpat begegnet sind (Lotman glaubt, dass Karamsin gerade ihm seine Kenntnisse der estnischen Sprache verdankt), und die indirekt ablehnende Haltung Karamsins gegenüber Friedrich David Lenz ließe sich dadurch erklären, dass die Familie des in Moskau in Armut lebenden Sturm-und-Drang-Dichters gegenüber dem „verlorenen Sohn“ relativ gleichgültig eingestellt war.
Karamsins Urteil über Lenz lässt sich in den „Briefen“ aus dem Gedankengang eines livländischen Edelmannes entnehmen: der Edelmann vergleicht einen glücklichen Lektor mit einem unglücklichen Dichter – und schließt: „das, was dem einen Ruhm und Glück verschafft, macht den anderen unglücklich“. Ferner wird Lenz mit Klopstock und Shakespeare verglichen und dabei auch der zerstörerische Kern seiner poetischen Begabung bloßgelegt: „Das tiefe Gefühl, ohne welches Klopstock nicht Klopstock und Shakespeare nicht Shakespeare wäre, hat ihn zu Boden gestürzt. Andere Umstände, und L. wäre unsterblich!“ Gleichzeitig erweist sich dieses Urteil des Unbekannten als eine neue literarische Maske, doch ist auch der Autor selbst damit wohl einverstanden: „Eine tiefe Melancholie, die Folge vieler Leiden, hatte ihn wahnsinnig gemacht, aber selbst in seiner Geistesgestörtheit überraschte er uns zuweilen durch seine poetischen Ideen und rührte uns durch seine Herzensgüte und Geduld.“ Somit ist Karamsin einer von denen, die die auch heute weit verbreitete Vorstellung von Lenz als einem „genialen Wahnsinnigen“ mit geformt haben.
Reisender in den baltischen Ländern
Im oben erwähnten Brief vom 31. Mai 1789, in dem die Reise von Narva nach Riga geschildert wird, teilt der Reisende auch die Eindrücke mit, die die Bewohner des Landes auf ihn gemacht haben. Wie so oft in den „Briefen“, legt Karamsin Urteile in den Mund von Nebenfiguren und trennt sie so von seiner eigentlichen Meinung. Das Urteil über die Esten und Letten stammt von (deutschen) Adligen des Landes, und fällt damit negativ aus. Den Bauern des Landes werden Eigenschaften wie Unbeholfenheit, Blödheit und Begriffsstutzigkeit zugesprochen („Ein jeder muss denken, dass sie, kurz gesagt, Dummköpfe sind“). Hier muss man aber einen gewissen Widerspruch zwischen der gehörten Information und der mit eigenen Augen gesehenen Realität festhalten: „Die Herren, mit denen ich das Glück hatte, ein Gespräch zu führen, beklagen sich über ihre [der Esten – B.W.] Faulheit und nennen sie Schlafmützen, die nichts zu tun fähig seien, wenn man sie nicht dazu zwingen würde. Also werden sie sehr gezwungen, denn sie arbeiten sehr viel; der Bauer in Liv- oder Estland bringt seinem Herren vier Mal mehr Nutzen als der unsrige im Kasanschen oder Simbirskschen Land.“ Der angeblich angeborenen Faulheit der baltischen Bauern steht ihr beispielloses Arbeitsvermögen gegenüber, das den Gutsherren des Landes einen beträchtlichen Nutzen bringt.
Nirgendwo in seinem Reisebericht schreibt Karamsin ausführlich über die Leibeigenschaft in den baltischen Ländern und bedient sich in der Charakterisierung der Bauern, die „seinen Herren mit Furcht und Zittern dienen“, sogar eines Verweises auf die Bibel (vgl. Ps 2:11: „Dient dem Herrn mit Furcht und freut euch mit Zittern!“). Im Vergleich zu den Texten Denis Fonwisins und Alexander Radischtschews scheinen die „Briefe“ Karamsins jedoch um einiges vorsichtiger und auch apolitischer zu sein. Der Hang der Landbewohner zu Lustbarkeiten wird nicht übersehen, die große Zahl der Wirtshäuser wird festgestellt.
Neigung zur Freude ist eines der Leitmotive in diesem Brief. So etwa stellt der Autor, wenn er Dorpat beschreibt, fest, dass in dieser „schönen Stadt“ „sich alle vergnügten und amüsierten“. Doch im Zusammenhang mit dieser Fröhlichkeit der Dorpatenser fällt ihm plötzlich das traurige Schicksal von Lenz ein. Auch die festliche Stimmung der Bauern, „dieser armen Leute“, steht im Kontrast zu ihrem „Furcht und Zittern“. Der ganze Brief Karamsins ist aufgebaut nach dem Prinzip der Gegenüberstellung von Situationen (so geht z. B. die Kibitke unterwegs kaputt, ein Wachtmeister ärgert sich und plötzlich wird dann eine gastfreundliche deutschbaltische Familie geschildert; später jedoch erwähnen örtliche Herren, dass die Bauern mit harter Hand „gezwungen“ werden müssen usw.).
Allerdings geht aus anderen Quellen hervor, dass Karamsin gegenüber den baltischen Ländern wesentlich kritischer eingestellt war. Aus den Briefen an seine Freunde ersieht man, dass Karamsin auf Livland auf Schritt und Tritt herabsieht: „Dieses Land muss man durchfahren, während man die Augen zuhält“ (Lotman: 52).
Karamsin spricht auch über die Sprachen des Landes, und findet u. a. dass die Sprachen der Letten und Esten einander ähnlich seien. Es scheint allerdings unwahrscheinlich, dass gerade Friedrich David Lenz, der seine Kindheit und Jugend im lettischen Teil Livlands verbracht hatte und später der erste Estnisch-Lektor der Universität Dorpat wurde, dem Reisenden so unstimmige Informationen erteilt haben könnte.
Schriftsteller, Dichter und Herausgeber
Karamsins schriftstellerische Bedeutung für die russische Literatur ist groß. Er reformierte die russische Literatursprache seiner Zeit und brachte aktiv neue Worte sowie Entlehnungen aus dem Französischen in Umlauf. Die weitere Entwicklung der Sprachreform wurde von dem Literaturverein „Арзамас“, den Karamsins Anhänger 1815 gegründet hatten, vorangetrieben. „Арзамас“ befand sich in Opposition zu dem Verein „Беседa русского слова“, welcher eine konservativere Linie befürwortete.
Karamsin schrieb eine ganze Reihe sentimentaler Erzählungen, deren Hauptaugenmerk dem „Leben des Herzens“, der inneren Erlebniswelt der Personen, feinen, innig durchlebten Naturbeschreibungen gilt („Евгений и Юлия“, 1789; „Бедная Лиза“, 1792; „Наталья, боярская дочь“, 1792; „Сиерра-Морена“, 1793; „Остров Борнхольм“, 1793; „Юлия“, 1796). Von den genannten Erzählungen ist „Die arme Lisa“ wohl die berühmteste, so ist z. B. der in dieser Erzählung beschriebene Teich in der Nähe des Moskauer Simeon-Klosters (Симонов монастырь) zu einem Pilgerort für russische Leser geworden.
Einige Werke Karamsins konzentrieren sich auf historische Thematik („Natalja, die Bojarentochter“, „Marfa, die Statthalterin oder die Unterwerfung Nowgorods“ – beide 1802) und gehen seinem umfangreichen Werk über die Geschichte Russlands voraus. Die Erzählung „Die Insel Bornholm“ ließe sich im Kontext einer gotischen Tradition lesen. Die in einer Polemik mit Rousseau verfassten Erzählungen „Моя исповедь“ („Meine Beichte“, 1802) und „Рыцарь нашего времени“ („Ein Ritter unserer Zeit“, 1803) sind außerdem bemerkenswert als Versuche, einen typologischen „Helden unserer Zeit“ zu erschaffen. Somit nehmen sie gleichsam bestimmte Figuren von Alexander Puschkin und Michail Lermontow innerhalb der russischen Literatur vorweg und lehnen sich im Kontext der Weltliteratur an die Werke von Musset, Senancour, Constant und Chateaubriand an. Vor allem lohnt sich aber der Vergleich seines historischen Spätwerkes „История государства Российского“ („Geschichte des russischen Staates“) mit dem epischen Roman „Les Martyrs“ von Chateaubriand (nach Lotmans Urteil verbindet die beiden Autoren der Wunsch, dem „philosophischen Jahrhundert“ nicht eine romantische Subjektivität entgegenzusetzen, sondern vielmehr die Macht der Tradition und des Primitiven hervorzuheben, die in der Konstruktion einer mittelalterlichen Weltanschauung des Erzählers realisiert wird.
Für Karamsin ist der Dichter ein „Beobachter des Herzens von Beruf“. In seiner Lyrik strebt er immer einen einfachen Stil an (dabei gleichzeitig seine Prosa poetisierend) und verzichtet dabei auf die „hohen“ Themen, die für die russische Literatur seiner Zeit charakteristisch waren. Damit trug er zum Abbau alter Dichtungskanons (die noch aus der Zeit Michail Lomonossows datierten) bei. In seinen Texten scheut sich Karamsin nicht – vor dem Hintergrund der Sehnsucht nach einem normierten freien Vers –, banal wirkende Reime zu benutzen. Er meidet Metaphern und Parabeln, am meisten faszinieren ihn gewöhnliche, geradezu alltägliche Dinge. Sogar die Geliebte eines lyrischen Helden „entbehrt jeglicher Begabung“ („Странности любви, или Бессонница“, 1793). In „Кладбище“ (1792), einem seiner beliebtesten Gedichte (das eine freie Übersetzung eines Gedichtes von Gotthard Ludwig Kosegarten und zugleich ein Beispiel der „Friedhofspoesie“ vom Ende des 18. Jahrhunderts ist), führt der Autor zwei grundverschiedene Ansichten an. Aus seiner Feder stammt auch das nachher sehr verbreitete Epitaph „Покойся, милый прах, до радостного утра“ („Ruhe sanft, lieber Staub, bis zum freudigen Morgen!“). Zu den Werken Karamsins gehören auch Albumpoesie, Episteln und Balladen.
Der Umstand, dass Karamsins Werke sehr schnell zu Klischees der russischen Literatur geworden sind, zeigt, wie stark sein schöpferisches Programm in die „hohe“ Literatur integriert wurde und wie reiche Frucht es trug.
Karamsin war auch übersetzerisch tätig. Von diesem Teil seines literarischen Werkes ist vor allem die russische Übersetzung (1792) des Schauspiels „Abhijnanashakuntala“ des indischen Dichters Kalidasa erwähnenswert.
Bemerkenswert ist noch die Rolle Karamsins als Herausgeber und Publizist. Im Laufe seines Lebens gab Karamsin eine Reihe literarisch-publizistischer Zeitschriften heraus („Московское чтение“, 1791–1792; „Аглая“, 1795; „Аониды“, 1795–1799; „Вестник Европы“, 1802–1803), in denen er nicht nur seine eigenen Texte, sondern auch Literaturübersichten veröffentlicht hat. Die Position, die Karamsin als selbständiger Literat, Herausgeber und Historiker innehatte, wurde später bewusst von Puschkin (als Herausgeber der Zeitschrift „Современник“ und als Verfasser historischer Schriften) nachgeahmt.
In estnischer Übersetzung sind von Karamsins Werken nur einige wenige Erzählungen erschienen: „Vaene Liisa“ und „Bojaaritütar Natalja“ (1974), sowie die Skizze „Erast ja Leonid ehk Tundeline ja külmawereline: Kaks karakterit“ (1900). Im 19. Jahrhundert wurde auch ein Prosafragment übersetzt, das unter dem Namen „Kevade Venemaal“ („Frühling in Russland“) („Нигде весна не имеет столько прелести, как в России“) bekannt ist. Dieser Text ist im Sammelband „Wenemaa suurusest, rahwa-suguarudest ja uskudest“ enthalten.
Homo politicus
Das Herangehen an Karamsin als Politiker wird durch den Umstand erschwert, dass die Evolution seiner politischen Ansichten von Forschern allzu oft nicht zugegeben wurde. In seiner Jugend hegte Karamsin gewisse Hoffnungen in Bezug auf die Französische Revolution und empfand sogar Sympathie für Robespierre. Später jedoch, als er sich seiner „unrealisierbaren Hoffnungen auf Fortschritt, Humanität und friedliche Freiheit des Menschen“ bewusst wurde, musste er eine Enttäuschung erleben. Trotzdem hat ihn die Idee von einer brüderlichen Einigung der gesamten Menschheit (was auch in seinem an Schiller orientierten Text „Песня мира“ aus 1792 zum Ausdruck kommt) zeitlebens fasziniert, ebenso wie der aufklärerische Kampf gegen Unbildung, Aberglauben und Despotismus, den er scharf von einer „natürlichen“ Alleinherrschaft unterschied.
Karamsin hat zwei Aufsätze für die französische Zeitschrift für Politik und Kultur, „Spectateur du Nord“ (1797) geschrieben: einen über die russische Literatur und den anderen über den Sturz Peters III.
Die Kompliziertheit der von Karamsin vertretenen politischen Position kommt am besten in seinem Verhältnis zu den Herrschern Russlands zum Ausdruck. In den unpopulären Schlussjahren der Herrschaftszeit Katharinas fiel Karamsin wegen seiner Beziehungen zum verbannten Nowikow in Ungnade (Nowikow war 1792 in die Festung Schlüsselburg verbannt worden). Die innere Neutralität Karamsins und seine Ehrlichkeit lockte Alexander I. an, gegenüber dem sich Karamsin nicht scheute, seine persönliche Meinung über die Herrschaft des Kaisers auf den Tisch zu legen. In seinem Bericht „О Древней и Новой России в ее политическом и гражданском отношениях“ („Über das Alte und Neue in politischen und bürgerlichen Beziehungen Russlands“, 1811) fällt Karamsin ein recht hartes Urteil nicht nur über die Regierungszeit der letzten Romanows, sondern auch über die liberalen Projekte Alexanders (Schaffung des Grundgesetzes und Abschaffung der Leibeigenschaft).
Nach Lotmans Ansicht stützen sich die politischen Überlegungen Karamsins oft auf die Gegenüberstellung eines edlen, aber schwachen Träumers und eines hartgesottenen politischen Tatmenschen, der sogar zynische Ansichten äußert. Solche Figuren erblickte Karamsin in Alexander I. und Napoleon. Die von Karamsin 1802–1802 herausgegebene Zeitschrift „Вестник Европы“ kann als bonapartistisch angesehen werden (vor Napoleons Russlandfeldzug wurde diese Position von vielen geteilt).
Radikale Jugendliche (die späteren Dekabristen, von denen Karamsin sagt, dass „die Irrtümer und Verbrechen dieser jungen Leute ihrer Natur nach die Irrtümer und Verbrechen unseres Jahrhunderts sind“, waren den immer konservativer werdenden Ansichten Karamsins feindlich gesinnt, achteten ihn ihm allerdings den „ehrlichen Menschen“.
Historiker
Durch Ukas des Zaren Alexander vom 31. Oktober 1803 wurde Karamsin zum Reichshistoriographen ernannt. Einer der führendsten russischen Dichter verzichtete auf seine schriftstellerische und publizistische Tätigkeit, gab sogar seine Professur an der Universität Dorpat auf, und all das, um der Muse der Historie zu dienen. Karamsin begann nun Materialien über die Geschichte Russlands zu sammeln, stieß im Laufe seiner Forschungen auf neue Texte (z. B. die Ipatjew-Chronik und „Das Beten Daniels des Gefangenen“) und schöpfte eifrig auch aus ausländischen Quellen. Im Vergleich zu seinen Vorgängern benuzte Karamsin in seinem monumentalen Werk insgesamt 350 Quellen und Titel.
Die ersten im Februar 1818 erschienenen Bände von Karamsins „Geschichte des russischen Staates“, erregten großes Aufsehen und wurden augenblicklich zum Bestseller: innerhalb von nur fünf Tagen waren alle dreitausend Exemplare verkauft. Puschkin brachte es auf den Punkt: „Alle, sogar die Damen der großen Welt, fingen an, die Geschichte ihres Vaterlandes, die ihnen früher unbekannt war, zu lesen“. Wenn Karamsin in den „Briefen“ die Welt der westlichen Kultur entdeckte, so wurde er jetzt mit seiner „Geschichte“ zu einem Kolumbus des älteren Russland.
Es gab auch kritische Stimmen. Faddei Bulgarin etwa betonte, dass Karamsins Ideen nur in einen Roman passen würden, und die radikal gesinnte Jugend rügte den Historiker wegen seiner konservativen Haltung (kritisiert wurde z. B. die im Vorwort des Buches enthaltene These, nach der die Geschichte des Volkes dem Zaren gehöre). Die junge Generation wurde im Mai 1821, nach dem Erscheinen des neunten Bandes, versöhnt, in dem die blutige Herrschaftszeit Iwans des Schrecklichen geschildert und freimütig über seine Tyrannei und Grausamkeit gesprochen wird. Die nächsten zwei Bände (10–11) erschienen im Druck 1824, die Arbeit am 12. Band setzte der Autor bis zum Ende seines Lebens fort.
Obwohl spätere Historiker und Forscher Karamsin Ungenauigkeit und eine zu weit gehende „Belletrisierung“ der Schilderungen vorwarfen, entstanden alle in der Folgezeit erschienenen Arbeiten über die russische Geschichte direkt oder indirekt unter dem Einfluss der „Geschichte des russischen Staates“. Nach einem Urteil Puschkins, der mit den Schlussfolgerungen der „Geschichte“ nicht immer einverstanden war, war Karamsin immerhin „unser erster Historiker und letzter Chronist“. In seinem vielbändigen, auf historischem Material basierenden Werk hat Karamsin für die Geschichte Russlands eine Fülle von typischen Charakteren und Typen geschaffen, ohne dabei mit Moral zu sparen. Als Befürworter der aufgeklärten Monarchie und als heftiger Gegner von Despotismus, versuchte Karamsin Beispiele von guten und schlechten Herrschaftsweisen anzuführen, und zwar in einem für die damalige Zeit glänzenden Stil.
Vor allem bemerkenswert ist der Einfluss seiner „Geschichte“ auf die Entwicklung der russischen Literatur. Die poetischen „Dumy“ von Kondrati Rylejew („Jermak“, „Iwan Sussanin“), die Tragödie „Boris Godunow“ von Puschkin, „Iwans Tod“ und „Zar Fjodor Iwanowitsch“ von Alexei Tolstoi sowie die historischen Schauspiele von Alexander Ostrowski – alle genannten Autoren holten sich ihren Stoff aus Karamsins Werk. Was den Umfang des Materials sowie den Reichtum an Personen angeht, kann mit dem episch-philosophischen Großunternehmen Karamsins nur der Roman „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi verglichen werden. Als kanonisierter Klassiker hatte Karamsin jedoch spätestens bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Beliebtheit weitgehend eingebüßt und geriet immer mehr unter Beschuss der Kritik.
Die letzten Lebensjahre
Karamsin starb am 3. Juni (22. Mai) 1826 in Sankt Petersburg. Obwohl das Ende der „Geschichte“ noch nicht in Sicht war (die Arbeit brach während der Smuta – der Zeit der Wirren – ab), hatte der Autor offenbar vor, die Erzählung nur bis zur Wahl von Michail Fjodorowitsch Romanow zum russischen Zaren fortzusetzen. Zu seinen Plänen gehörte eine neue Westeuropareise: er hatte Nikolai II. um die Stelle des Residenten Russlands in Florenz gebeten, um sich dort um seine Gesundheit zu kümmern (vermutlich hatte er sich am 14. Dezember 1825 als Augenzeuge des Dekabristenaufstandes erkältet). Der Kaiser stellte ihm darauf eine Fregatte zur Verfügung und gewährte ihm eine Jahresrente in Höhe von 50 000 Rubeln (was Karamsin als zu großzügige Geste ärgerte). Leider erwiesen sich diese Pläne als voreilig.
Die Karamsins in Estland
Die zweite Ehefrau Karamsins, Jekaterina Kolywanskaja war eine Tochter des namhaften Hofmannes Andrei Wjasemski und Schwester des Dichters Pjotr Wjasemski. Da sie ein außereheliches Kind war, erhielt sie ihren Familiennamen von seinem Geburtsort: Als Kolywan wurde Reval (Tallinn) von Russen bezeichnet. Am 16. Juni 1826 fuhr sie zusammen mit ihren Kindern und ihrem Bruder nach dem Tod ihres Ehemannes dorthin. Die Familie blieb auch über den Winter dort. Details aus dem alltäglichen Leben der Familie in Reval finden sich in Wjasemskis Briefwechsel.
Den Salon der Witwe Karamsins besuchte u. a. der Übersetzer Karl von Knorring, der in Reval den Almanach „Russische Bibliothek für Deutsche“ (1831) herausgab.
Karamsins Söhne Andrei und Alexander studierten an der Universität Dorpat. Seine Tochter Jekaterina Mescherskaja erwarb ein Landgut in der Umgebung von Narva. Seine älteste Tochter Sofja Karamsina, die nach dem Tod ihrer Mutter die Traditionen der Salonführung fortsetzte, starb in Reval am 1. Juni 1856.
Mit Estland verbunden sind auch das Leben und Werk der Dichterin Maria Karamsina (1900–1942), die mit Wassili Karamsin, einem Enkel Nikolai Karamsins, verheiratet war. Ihren Mann lernte sie in Dorpat kennen. Später lebte das Ehepaar in Kiviõli (bei Wesenberg (Rakvere)). In Narva erschien aber der einzige Lyrikband von Maria Karamsina (1939), in einer Auflage von 250 Exemplaren. 1941 wurde ihr Mann vom NKWD erschossen, die Dichterin selbst starb als Deportierte in Sibirien.
Igor Sewerjanin, der russische Dichter, der eine Zeit lang in Toila (bei Narva) gelebt hat, war mütterlicherseits mit Nikolai Karamsin weitläufig verwandt.
Boris Weisenen