Lebenslauf
Die wohl bekannteste deutschbaltische Schriftstellerin um 1890, Laura Mohr (Künstlername: Laura Marholm), wurde am 19. Aprill (5. Mai) 1854 in Riga geboren. Ihr Vater Frederik Wilhelm Theodor Mohr stammte aus Dänemark und war seines Zeichens Kapitän. Ihre Mutter Amalie Roeder war eine Deutschbaltin zweiter Generation, deren Vater aus Göttingen nach Riga eingewandert war. Laura war das einzige Kind der Familie und das Verhältnis zwischen ihr und ihren Eltern war gespannt. Ihre Mutter hoffte, dass Laura sie im Alter unterstützen und ihr Gesellschaft leisten würde, daher billigte sie keineswegs ihre literarischen Ambitionen und ihre Beziehungen außerhalb des Familienkreises. Laura Marholms schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter kommt in ihren Texten als literarisches Motiv oft vor.
Laura Marholm besuchte die Mädchenschule von Riga. Sie wurde Lehrerin – dieser Beruf war der höchste, der damals für Frauen zugänglich war. Da sie sich mit der konventionellen Bildung nicht zufriedengeben wollte, bildete sie sich selbst weiter.
Beengende Familienverhältnisse prägten Marholms Einstellung zur baltischen (und vor allem zur Rigaer) Gesellschaft, die sie in ihren Werken in nicht gerade rosigem Licht darstellt, maßgeblich. In einer Theaterrezension in der „Freien Bühne“ (1892) schrieb sie: „Ich habe ja selbst eine sorgfältige deutsche Erziehung genossen und ich vergelte es den Schulräumen, in denen ich gesessen, und der Stadt, in der ich aufgewachsen, mit meinem aufrichtigsten Abscheu“. Ihre politischen Stellungnahmen in lokalen Zeitungen des Baltikums sowie ihr selbstbewusstes Auftreten waren mit ein Grund, warum sie aus der baltischen Öffentlichkeit verdrängt wurde.
Bereits Anfang der 1880er Jahre entdeckte Marholm Hendrik Ibsen, in dessen Werken sie ihre Umgebung wiederfand: „Die Menschen und die Verhältnisse in seinen Gesellschaftsdramen, das war ja eben mein Kreis, meine Verhältnisse, meine ganz persönliche Umwelt. Ich sah alles, was mich band und unterdrückte, mit einer Deutlichkeit wie nie. Und ich sah, dass ich fort müsse. Ich hatte keine Ruhe mehr zu bleiben. Fort muss ich, gleich! Ich hatte nirgendwo Verbindungen, ich ging ganz ins Ungewisse hinein im nothgedrungenen Vertrauen auf das Einzige, was ich hatte: mein bisschen Talent. Ohne Ibsen wäre ich nie hinausgekommen.“
Im Jahre 1884 publizierte sie in der „Nordischen Rundschau“ über Ibsen einen von Belesenheit und Sachkenntnis zeugenden Artikel. Ihre Bekanntschaft mit Georg Brandes, dessen literaturwissenschaftliche Methoden sie propagierte und mitunter auch auf baltische Literatur anwendete (in ihrer Analyse des Romans „Die von Kelles“ von Theodor Hermann Pantenius), gab ihr die entscheidende Kraft, sich von den baltischen Verhältnissen loszureißen. Einer Einladung von Brandes folgend, reiste Marholm Ende Oktober 1885 nach Kopenhagen. Dort verkehrte sie im Haus der Familie Brandes, wo sie namhafte skandinavische Schriftsteller wie Alexander Lange Kielland, Arne Garborg, Henrik Ibsen, August Strindberg, Bjørnstjerne Bjørnson und Ola Hansson kennenlernte. Werke dieser Autoren übersetzte sie später ins Deutsche.
Sie distanzierte sich jetzt sowohl von ihrer Familie als auch von ihren früheren Texten, die sie unter dem männlichen Pseudonym Leonhard Marholm veröffentlicht hatte und die ihr jetzt belanglos erschienen. Unter ihrem neuen Schriftstellernamen Laura Marholm machte sie sich einen Namen als Literatur- und Theaterkritikerin, die die Abgründe der weiblichen Seele ausleuchtete. Auch in ihrem literarischen Werk beschäftigte sie sich vor allem mit der weiblichen Psyche.
Im Jahre 1887 unternahm Marholm eine Reise nach Paris und Berlin und schloss Bekanntschaft mit dem norwegischen Schriftsteller Jonas Lie, in dem sie einen väterlichen Freund fand.
1888 lernte Marholm den schwedischen Schriftsteller Ola Hansson näher kennen, dessen aufsehenerregendes Buch „Sensitiva amorosa“ (1887) sie rezensiert und gelobt hatte. Marholm und Hansson heirateten am 17. September 1889 (am 8. September 1890 wurde ihr Sohn Ola geboren).
Im Januar 1890 ließen sie sich in Berlin nieder, wo sie Kontakte zum Friedrichshagener Kreis (Otto Brahm, Gerhart Hauptmann, Arno Holz) knüpften und in den skandinavisch-deutschen Kulturbeziehungen eine wichtige Rolle spielten. Um diese Zeit wurde Marholm als Literatur- und Theaterkritikerin bekannt.
In den Jahren 1894–1897 wohnte die Familie Hansson in Schliersee bei München, abseits von größeren Zentren. Für Marholm war diese Periode literarisch äußerst produktiv. Mitte der 1890er Jahre erschienen ihre wichtigsten Werke, u. a. „Das Buch der Frauen“ (1895), das trotz seiner ambivalenten Rezeption ein Bestseller und ein großer Erfolg für den jungen Verlag Albert Langen wurde. Das Buch wurde bald in mehrere Sprachen übersetzt: es erschien auf Schwedisch, Englisch, Norwegisch, Russisch, Polnisch, Dänisch, Tschechisch und Italienisch. 1895 erschien auch ihre Essaysammlung „Wir Frauen und unsere Dichter“, in der Marholm literarische Frauenbilder in den Werken von Gottfried Keller, Paul Heyse, Henrik Ibsen, Bjørnstjerne Bjørnson, Leo Tolstoi, August Strindberg und Guy de Maupassant kritisch darstellte, sowie ihr Drama „Karla Bühring“ und ihr Novellenband „Zwei Frauenerlebnisse“. Um 1900 begann für sie eine weitere fruchtbare Schaffensperiode mit der zweiteiligen Abhandlung „Zur Psychologie der Frau“, zwei Novellensammlungen („Buch der Toten“ und „Der Weg nach Altötting und andere Novellen“), sowie mit Beiträgen und autobiographischen Erzählungen in Zeitungen.
Nunmehr schrieb Marholm, die mit ihrer zunehmenden geistigen Umnachtung kämpfte, nur kürzere Beiträge vor allem für deutsche, später auch für skandinavische Zeitungen und Zeitschriften. Wegen einer schweren Krankheit ihren Sohnes war das Interesse von Laura Marholm und Ola Hannson für den Katholizismus angewachsen, was 1898 schließlich zu ihrer Konversion führte. So trägt das Spätwerk von Laura Marholm auch das Gepräge des katholischen Glaubens.
Laura Marholm und Ola Hanson gehörten zu den wenigen Autoren ihrer Zeit, die versuchten als freie Schriftsteller ihren Unterhalt zu verdienen. Das abnehmende Interesse seitens der Verlage brachte allerdings eine miserable wirtschaftliche Lage mit sich und verschlechterte den seelischen Zustand des Ehepaares. Um 1900 wurde Marholms Paranoia stärker und 1905 erfolgte ihre Einweisung in eine Irrenanstalt in München. Der sieben Monate lange Aufenthalt in der Anstalt lähmte ihre Schaffenskraft noch jahrelang.
Nach der Entlassung aus der Anstalt wohnten die Hanssons bis 1914 hauptsächlich in Paris, unterbrochen von längeren Aufenthalten in Österreich, Riga, Stockholm und der Schweiz. Während des Ersten Weltkrieges zeigte Marholm zunehmendes Interesse an sozialistischen Ideen und schrieb vorwiegend für sozialistische Zeitschriften. Nach dem Krieg wohnte die Familie Hansson in Dänemark und Schweden, 1922 unternahmen sie eine längere Reise über Jugoslawien nach Griechenland und in die Türkei, wo Ola Hannson 1925 starb. Danach kehrte Laura Marholm mit ihrem Sohn in ihre Heimat – ins lettische Riga – zurück. In ihren letzten Lebensjahren widmete sie sich der Herausgabe des literarischen Nachlasses von Ola Hansson und der Pflege seines Andenkens. Laura Marholm starb am 6. Oktober 1928 in Majorenhof (Majori) bei Riga und wurde in Riga beigesetzt.
Frauenfrage
Schon in ihrer frühen Schaffensperiode interessiert sich Laura Marholm für die gesellschaftliche Stellung der Frau. Sie hält in Riga Vorträge über die Rolle der Frau in der Geschichte des Baltikums. Die typische Protagonistin in ihren frühen Dramen ist eine intelligente (adlige) Frau, deren geschichtliche Rolle darin besteht, ihrem Mann moralische Werte beizubringen und ihn zum moralischen Handeln zu lenken. Marholm schreibt der Frau eine noch recht traditionelle Rolle zu, ihre Protagonistinnen fallen allerdings durch ein hohes Maß an Intelligenz, Selbstständigkeit und pragmatisch-rationaler Denkweise auf, Eigenschaften, die dem impulsiven Charakter der dargestellten Männer gegenüberstehen.
Seit Ende der 1880er Jahre erschienen in einigen modernistischen Berliner Zeitschriften („Freie Bühne“, „Die Gegenwart“, „Nord und Süd“, „Die Frau“, „Die Zukunft“ u.a.) aus Marholms Feder polemische Abhandlungen über die weibliche Seele (z. B ihre Artikelserie „Die Frauen in der skandinavischen Dichtung“ in der „Freien Bühne“ 1890). In diesen kleinen Studien wird auf den Konstruktionscharakter der historisch und kulturell vorgegebenen Geschlechterrollen hingewiesen, die eine Frau laut Marholm von ihrer natürlichen Weiblichkeit entfremden würden. Kulturelle Geschlechterrollen sind für Marholm vor allem ein Produkt der Erziehung, die durch einen strengen Moralkodex die natürliche Sexualität der Mädchen unterdrücke. Dies versursache Unzufriedenheit, Nervenkrankheiten und hysterische Anfälle und könne sogar zur emotionalen und geistigen Lähmung führen. Auch die Belletristik vermittle ein gezerrtes Frauenbild, das die Frau entweder idealisiere oder dämonisiere.
„Das Weib lehnt sich eben endlich dagegen auf, für etwas gelten zu sollen, das es nicht ist,“ sagt Laura Marholm in ihrer Abhandlung „Zur Psychologie der Frau“ (1897). Ihre feministische Forderung lautet: „Und nun ist es Zeit, dass wir unser ganzes Weibsein zurückverlangen!“ Und: „Wir wollen Frauen sein ganz und gar, und in Allem, was des Weibes ist, in unserer Lebensauffassung und in unserer Lebensthätigkeit und in unseren Berufen [---]. Wir wollen nicht an seine Tische betteln gehen, oder ihn von seinem Tische verdrängen, wir wollen unseren eigenen Tisch haben.“
Marholm vertritt in der Geschlechterfrage die Auffassung von der Polarität der Geschlechter und sieht die höchste weibliche Selbstverwirklichung in der Mutterschaft sowie in einer vollkommenen Partnerbeziehung – ohne diese Voraussetzung würde auch die intellektuelle Selbstverwirklichung der Frau nur scheitern. Die unterdrückte Weiblichkeit und eine gescheiterte Partnerschaft stellen für Marholm das Hauptproblem der begabten und schöpferischen Frauen dar. Mit diesem Thema befasst sie sich im „Buch der Frauen“ am Beispiel der Schicksale von Sofja Kowalewskaja, Marie Bashkirtseff, Berthe Amalie Skrami, Eleonora Duse, George Egerton (Mary Chavelita Dunne Bright) und Anne Charlotte Edgren-Leffler.
Marholm kritisiert die Ehe, die aus wirtschaftlichen Gründen oder aus Angst vor Alleinsein geschlossen wird und sexuelle Bedürfnisse der Frau vernachlässigt. Den Unterschied zwischen Mann und Frau vesteht Marholm keineswegs antagonistisch wie zum Beispiel Strindberg, vielmehr sollten die Geschlechter einander ergänzen: Die Frau und der Mann seien dafür geschaffen, einander besser zu verstehen. Dies werde aber durch die herkömmliche Rollenverteilung verhindert. Marholm verkündigt eine neue Weltordnung, in der die Gesellschaft gleichermaßen durch „das Weibsein“ geprägt wäre: „Eine Periode des Gefühls ist im Anzuge und die Zeit des Weibes ist mit ihr gekommen.“
Schaffen
Während Marholm in der bisherigen Tradition der Frauenliteratur die Reproduktion der philosophischen, moralischen und künstlerischen Ideen der Männer sieht und kritisiert, findet sie anhand einiger literarischen Texte (vor allem) skandinavischer Schriftstellerinnen ihrer Zeit, dass sich die weibliche Selbsterkenntnis mitunter ästhetisch in Ablehnung der traditionellen und unter Anwendung neuer, der „weiblichen Natur“ angemesseneren Formen manifestiere. Die Frau in Marholms Werk setzt auf ihre individuelle Empfindung, sie hat den Mut, sich dessen bewusst zu werden und sie kann es auch ausdrücken. Marholm vergleicht die Literatur „der neuen Frauen“ mit den Gemälden von Claude Monet, bei denen sie eine ähnliche Empfindlichkeit für Nervennuancen und fein oszillierende Seelenzustände findet. Die passendste Kreativitätsform für schreibende Frauen sieht Marholm im Impressionismus. Marholms literarisches Credo ist zunächst durch die naturalistische Schule geprägt, später entwickelt sich ihr Schreiben im Geiste der psychologischen Schreibweise von Ola Hansson weiter. Marholm beginnt ihre schriftstellerische Karriere mit dem zweiteiligen Drama „Johann Reinhold Patkul“ (1879–1880) und dem Drama „Frau Marianne“ (1882), die beide Erfolg haben. Die Dramen sind in wenigen Wochen vergriffen und werden auch im Stadttheater von Riga aufgeführt.
1895 erschien von ihr nach einer längeren Pause ein weiteres Drama, „Karla Bühring“, das sich aus moderner Sicht mit der Frauenfrage befasst. Im selben Jahr veröffentlichte sie noch zwei Erzählungen unter dem Titel „Zwei Frauenerlebnisse“. 1900 folgten zwei Novellenbände „Buch der Toten“ und „Der Weg nach Altötting und andere Novellen“. Die Themen ihrer belletristischen Werke der 1890er Jahre entsprechen der Problematik ihrer theoretischen Schriften. Die starke autobiographische Note ihres literarischen Schaffens bereitete Marholm aber auch immer wieder Unannehmlichkeiten, da sich die dargestellten Personen in ihrem Werk oft erkannt zu haben glaubten.
Literaturkritik
Schon in ihren ersten Essays über Ibsen und Brandes erwies sich Marholm, die eine Autodidaktin war, als eine sehr belesene Kritikerin mit gewandter Feder und einer modernen Literaturauffassung. In deutschen Zeitungen erschienen ihre zahlreichen Beiträge über skandinavische Literatur (über Ibsen, Strindberg, Bjørnson, Kielland), die sie höher schätzte als die deutsche. In der skandinavischen Literatur bewunderte sie die psychologische Darstellung des modernen Menschen.
Dass Marholm sich als modernistische Kritikerin etablieren konnte – diese Position war für Frauen damals kaum zugänglich – beweist die Tatsache, dass sie eine der wenigen Kritikerinnen ihrer Zeit war, deren Beiträge regelmäßig in der ersten modernistischen Literaturzeitschrift Deutschlands „Freie Bühne“ erschienen. In ihren Aufsätzen schilderte sie das Berliner Theaterleben, bot Einblicke in die gegenwärtige skandinavische, deutsche und französische Literatur und übte Kritik an literarischen Frauenbildern.
Liina Lukas