Bibelübersetzer und Bildner der estnischen Schriftsprache; Pastor in Kawelecht und Odenpäh
Geburtsort:
Kamby (Livland)
Geburtsdatum
(n.St./a.St.):
30.11.1663 / 20.11.1663
Sterbeort:
Dorpat (Livland)
Sterbedatum
(n.St./a.St.):
08.07.1706 / 27.06.1706
Geschlecht:
Mann
Sprache:
Estnisch
Namensformen:
Adrian Virginius; Adrian Verginius; Adrian Vergin; Virginius; Virgin
Hingerichtet durch Enthaupten. Als Unterschrift benutzte A. Virginius selbst die Namensform Vergin.
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LebenslaufAdrian Virginius wurde am 20. Oktober 1663 als Sohn von Andreas Virginius, dem Pfarrer der livländischen Gemeinde Kamby (Kambja), geboren. Sein Großvater, der aus Pommern gebürtige Adrian Virginius, war aus Deutschland nach Livland eingewandert, um in Nüggen (Nõo) Pfarrer zu werden, und sein bereits in Livland geborener Vater diente 41 Jahre lang in Kamby. Nach drei Jahren Privatunterricht zu Hause lernte Adrian Virginius ab 1676 in der Stadtschule von Dorpat, ab 1679 im Lyzeum in Riga, bis er kurz danach ans Gymnasium in Reval wechselte. In den Jahren 1681–1683 studierte A. Virginius Theologie in Kiel, brach sein Studium jedoch ab, da sein Vater ihn wegen einer Handverletzung, die er sich bei einem Duell zugezogen hatte, nach Hause zurückgerufen hatte. Zurück in der Heimat begann Adrian Virginius bei der Übersetzung und Publizierung estnischsprachiger Kirchenliteratur mitzuwirken – einer Arbeit, die von Johann Fischer, dem livländischen Generalsuperintendenten, vorangetrieben wurde und an der auch Adrians Vater Andreas Virginius zusammen mit einigen Pastoren aus Nordlivland ‒ dem heutigen Südestland ‒ beteiligt waren. Bereits 1684 erschien in Riga die estnische Übersetzung des Lutherschen „Großen Katechismus“ („Önsa Lutri Laste Oppus“), den Andreas Virginius, Marcus Schütz und Laurentius Moller vorgelegt hatten und den Adrian in den Druck gegeben hatte. 1685 gaben dieselben Autoren das evangelische Gesangbuch „Wastne Tarto Mah Keele Laulo Rahmat“ heraus, das einige Übersetzungen auch von der Hand Adrian Virginius’ enthielt.
Ende 1685 wurde Adrian Virginius zum Pastor in Ringen (Rõngu) ernannt, konnte diese Stelle jedoch wegen Behördenfehlern nicht ausüben. Im Jahr danach wurde er Pastor in Kawalecht (Puhja) und bereits 1687 erhielt er eine Pfarrstelle in Odenpäh (Otepää), wogegen allerdings Protest erhoben wurde. So diente A. Virginius weiter in Kawalecht bis zu seiner erneuten Ernnenung zum Pastor in Odenpäh 1694.
1692 heiratete Adrian Virginius die aus Schweden gebürtige Christine Elisabeth Krieg. Aus dieser Ehe gingen sieben Kinder hervor.
Der Große Nordische Krieg traf Odenpäh hart. 1702 war Adrian Virginius gezwungen, seine Familie nach Dorpat zu schicken, wo er ein Haus besaß. Er selbst blieb in Odenpäh, um den Bauern des Ortes in ihrem Kampf gegen die plündernden Soldaten aus Russland beizustehen und sie zu ermutigen. Als russische Truppen 1704 zum Großangriff gegen Dorpat ansetzten, musste er jedoch mit seiner Familie nach Reval fliehen. Gleich nach der Einnahme von Dorpat kehrte A. Virginius zu seiner Gemeinde in Odenpäh zurück, wurde allerdings schon am 30. September 1704 unter der Beschuldigung, für Schweden spioniert zu haben, verhaftet: Als Vorwand diente, daß er die Behörden von der Erhaltung einiger Privatbriefe nicht unterrichtet habe.
Verhaftet und nach Dorpat ins Gefängnis gebracht wurde auch der Küster Jacob Erdmann. Die Verhaftung von Adrian Virginius stieß bei vielen auf Protest, und sowohl die Stadtbehörden und Bürger von Dorpat als auch die Bauern-Kirchenvormünder, Gutspächter und -verwalter aus dem Kirchspiel Odenpäh versuchten für ihn einzutreten. Dessen ungeachtet wurde Adrian Virginius zum Tode durch Enthauptung verurteilt und am 27. Juli (oder 27. Juni) 1706 wurde das Urteil am vor dem Deutschen Tor von Dorpat gelegenen Ravelin vollstreckt – am Ort des späteren Marktplatzes (bzw. des Rathausplatzes). Mit ihm wurde auch der verhaftete Küster hingerichtet.
Die Rolle Virginius’ bei der Bibelübersetzung und der Herausbildung der estnischen SchriftspracheAdrian Virginius war der wichtigste Förderer der estnischen Schriftsprache sowie der bedeutendste Übersetzer und Herausgeber estnischsprachiger Kirchenliteratur in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. Als Livländer dritter Generation war er mit den Verhältnissen der baltischen Länder gut vertraut und beherrschte gut sowohl die nördliche als auch die südliche Variante der estnischen Sprache. Obwohl es sich heutzutage nicht mehr ermitteln lässt, wie groß der Beitrag von Andreas Virginius bei den estnischsprachigen Druckwerken wirklich ist, galt sein Vater unter den Pastoren seiner Zeit als einer der besten Kenner der estnischen Sprache, so hatte Adrian Virginius gute Vorassetzungen, diese Arbeit fortzusetzen. Als größte Leistung der beiden Virginius in der estnischen Kulturgeschichte kann man wohl die erste südestnische (bzw. dörptestnische) Übersetzung des Neuen Testaments im Jahre 1686 ansehen. Im Wesentlichen ist das „Wastne Testament“ wohl von Andreas Virginius übersetzt worden, die endgültige Redaktion lag jedoch schon in den Händen von Adrian Virginius, der darüber hinaus das Vorwort von Johann Fischer ins Estnische übersetzt hatte. In den Jahren 1687–1690 arbeiteten die beiden Virginius gemeinsam an der nordestnischen (bzw. revalestnischen) Übersetzung des Alten Testaments. Bedauerlicherweise konnten sie dabei nur bis zum Buch Hiob kommen, da bereits andere Arbeiten der Übersetzung ein Ende setzten. In den Jahren 1690–1691 erschien als Gemeinschaftsarbeit von Vater und Sohn das vierteilige Kirchenhandbuch „Tarto-Ma Kele Kässi Ramat“ in südestnischer Sprache, für das Adrian Virginius ein deutschsprachiges Vorwort verfasste. Das im Handbuch enthaltene Gesangbuch war eine Neuausgabe des Gesangbuches von 1685 („Tarto Mah Keele Laulo Rahmat“), das Andrian Viginius nun zusätzlich verbessert und erweitert hatte.
Adrian Virginius spielte auch bei der Weiterentwicklung der Kirchenliteratur in nordestnischer Sprache eine wesentliche Rolle. 1690 erschien ein für den Schulunterricht bestimmtes nordestnisches Gesangbuch, welches er und Bengt Gottfried Forselius gemeinsam verfaßt hatten. Das größte Verdienst von Adrian Virginius bei der Entwicklung der nordestnischen Sprache bleibt wohl das in den Jahren 1694–1695 in vier Teilen erschienene Kirchenhandbuch „Ma Kele Koddo ning Kirgo Ramat“, das er zusammen mit Reiner Brocmann dem Jüngeren, Johann Daniel von Bertholdi, Magnus de Moulini und Johann Hornung zusammengestellt hatte. Die Sprache dieses Buches war besser und geschmeidiger als die Kirchensprache, die im Verwaltungsgebiet des estländischen Konsistoriums benutzt wurde, und das Buch drohte deswegen das zwei Jahre zuvor in Reval erschienene Handbuch („Ehstnisches Hand-Buch“, 1693) in den Schatten zu stellen. Im nicht mehr erhaltenen Vorwort des livländischen Handbuches wurde über die unbeholfene Sprache und Schreibweise des Revaler Handbuches ironisiert. Infolge eines Beschwerdeschreibens der Estländer wurde die Benutzung des neuen Handbuches auf Beschluß des Königs vom 16. Juli 1695 verboten. Neu überarbeitet und mit einem Vorwort von Salomo Heinrich Vestring versehen, erschien das Handbuch im Jahre 1700 („Ma Kele Koddo- nink Kirko-Ramat“) erneut.
Neben B. G. Forselius und J. Hornung gehörte Adrian Virginius zu den bedeutendsten Sprachreformern seiner Zeit. Am klarsten traten die Gegensätze zwischen den konservativen und den reformgesinnten Männern während der Diskussionen, die die nordestnische Übersetzung des Neuen Testaments ausgelöst hatte, zu Tage. Die Vertreter des estländischen Konsistoriums verteidigten die alte Sprachnorm, die vor einem halben Jahrhundert von Heinrich Stahl eingesetzt worden war. Die Vertreter des livländischen Konsistoriums mit Johann Fischer an der Spitze dagegen befürworteten die Reformbestrebungen der jungen Spracherneuerer, die die Kirchensprache der Volkssprache näherbringen und die Orthographie mit dem phonetischen System der Sprache besser in Einklang bringen wollten. Als Vertreter der Livländer nahm Adrian Virginius an beiden Bibelübersetzungskonferenzen (1686 in Lindenhof (Liepa) und 1687 in Pillistfer (Pilistvere)) teil. Auch in seinem Briefwechsel hat er sich zu seinen übersetzerischen Prinzipien geäußert.
Kristiina Ross
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