Garlieb Merkel (1769 – 1850)ÜbersichtLebenGarlieb Helwig Merkel wurde am 21. Oktober (1. November) 1769 auf dem Pastorat Loddiger (Lēdurga), 28 Kilometer von Wenden (Cēsis), in der Familie von Daniel Merkel und Gertrud Elisabeth Merkel (geb. von Brockhausen) geboren. Seinen ersten Unterricht erhielt G. Merkel von seinem aufklärerisch gesinnten Vater, später besuchte er die Domschule in Riga. Nach dem frühen Tod des Vaters 1782 brach G. Merkel die Schule ab und verbrachte nahezu dreieinhalb Jahre mit Selbstudium in der Bibliothek, die sein Vater hinterlassen hatte. Dabei konzentrierte er sich auf das Lernen von Sprachen (Latein, Französisch, Englisch) und auf das Lesen der älteren deutschen Literatur. Da die finanzielle Lage der Mutter für den wiederaufgenommenen Domschulbesuch nicht ausreichte, trat Merkel 1786 die Stelle eines Kanzleibeamten beim livländischen Gewissensgericht an und erteilte zudem Privatunterricht. Zu dieser Zeit machte er auch seine ersten literarischen Versuche und trat dem „Prophetenclub“, einem in Riga entstandenen Freundeskreis, der junge Schauspieler, Künstler und Hofmeister deutscher Herkunft vereinigte, bei. Die ersten Federproben des jungen Literaten erregten Aufmerksamkeit und 1788 wurde ihm von Pastor Cleemann eine Hofmeisterstelle auf dem Pastorat Pernigel (Liepupe) angeboten. Auf diesem Posten blieb er mit einer kleinen Unterbrechung bis 1796, und ab 1793 arbeitete er zugleich auf dem Gut Annenhof (Annasmuiža) beim Kreismarschall von Transehe. Zu seinen engsten Freunden und Gesinnungsgenossen in der ersten Hälfte der 1790er Jahre gehörte Carl Grass, ein junger livländischer Maler und Dichter, zugleich sein Schulkamerad von der Domschule. Medizinstudium, Debüt als Publizist1796 verließ G. Merkel Livland und ging nach Leipzig, wo er das Buch „Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts“, ein Werk, das die ständische Gesellschaft verurteilt und an dem der Autor in seinen Annenhofer Jahren gearbeitet hatte, publizierte. Nach dem Medizinstudium in Leipzig und Jena von 1796 bis 1797 hielt sich G. Merkel an verschiedenen Orten Deutschlands auf, dauerhafter in Weimar, wo er sich mit Johann Gottfried Herder, C. M. Wieland ja und K. A. Böttiger anfreundete. 1801 wurde er in Frankfurt an der Oder zum Doktor der Philosophie promoviert. Ab 1802 ließ sich G. Merkel in Berlin nieder. Er debütierte als Herausgeber von Zeitschriften und als Publizist. Aus seiner Feder stammt übrigens die erste regelmäßige Theaterkritik in der deutschen Presse, und zwar in der „Spenerschen Zeitung“, bei der er 1802 als Redakteur der Wissenschaftsbeilage arbeitete. Die erste Zeitschrift, die Merkel selbst (1803) gründete, war das literarische Unterhaltungsblatt „Ernst und Scherz“. Ein Jahr nach der Gründung (1803) schloss sich ihm der erfolgreiche Theaterdichter und Publizist August von Kotzebue an und die Zeitschrift erschien seitdem unter dem Namen „Der Freymüthige, oder Ernst und Scherz“ (1804–1806). Merkels kritische Aufsätze, die gegen die Fremdherrschaft Napoleons gerichtet waren und die Deutschen aufriefen, zu den Waffen zu greifen, bewirkten, dass er 1806 aus Deutschland fliehen musste. 1816 versuchte er in Berlin Fuß zu fassen, doch „Ernst und Scherz oder Der alte Freymüthige“ erwies sich als dermaßen unpopulär, dass er nach einem Jahr die Arbeit als Redakteur niederlegte. In und bei Riga, Fortsetzung der journalistischen TätigkeitZurück in Riga nahm G. Merkel seinen politischen Kampf mit der Publikation „Supplementblätter zum Freymüthigen“ (1807) wieder auf. Nach der Heirat mit Dorothea Wilhelmina Germann kaufte sich Merkel in der Nähe von Riga ein kleines Gut (Depkinshof, auch Merkelshof genannt), und teilte seine Energie nunmehr zwischen Landwirtschaft und journalistischer Tätigkeit auf. Unter seiner Redaktion erschienen in den folgenden Jahren die Periodika „Der Zuschauer“ (1807–1831), „Zeitung für Literatur und Kunst“ (1811–1812), „Livländischer Merkur“ (1818) und „Provinzial-Blatt für Kur-, Liv- und Ehstland“ (1828–1838). Das letztere setzte das von 1824 bis 1827 erschienene „Ostsee-Provinzen-Blatt“ des livländischen Generalsuperintendenten Karl Gottlob Sonntag fort. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte G. Merkel zurückgezogen auf seinem Guts- bzw. Bauernhof, wo er am 27. April (9. Mai) 1850 auch starb. Ab 1817 gehörte G. Merkel der Kurländischen Gesellschaft für Litteratur und Kunst (der ersten Gesellschaft, die Intellektuelle der baltischen Länder vereinigte) an. Ab 1841 war er zugleich Ehrenmitglied der Lettisch-Literärischen Gesellschaft (Latviešu literāriskā biedrība). ZusammenfassungDie literarische und journalistische Tätigkeit von G. Merkel, den man den „livländischen Voltaire“ genannt hat (J. Eckardt), orientierte sich gänzlich an den Ideen der Aufklärung. Zu einem beträchtlichen Teil bildeten sich seine Ansichten unter dem Einfluss von Rousseau, Montesquieu, Voltaire, Marmontel, Raynal, Hume und Herder heraus. Sein erstes im Druck erschienenes Werk „Die Letten“ (1796), das zur wirkungsvollsten Schrift in seinem Schaffen wurde, forderte in scharfem Ton die Abschaffung der Leibeigenschaft in Livland. Im Unterschied zu den anderen Aufklärern der baltischen Länder, von denen zum Thema der Leibeigenschaft z. B. August Wilhelm Hupel, Wilhelm Christian Friebe und Heinrich Johann von Jannau das Wort ergriffen hatten, glaubte G. Merkel nicht, dass die Situation der Bauern verbessert werden könne, solange die ständische Ungleichheit erhalten bleibt. Die in Livland herrschende Leibeigenschaft war nach Merkels Ansicht nicht nur eine Schande für die Menschheit, sondern auch hoffnungslos unzeitgemäß. In diesem Punkt vereinigte Merkel zwei Themen, die im livländischen Kontext bisher getrennt behandelt worden waren: die aufklärerischen Ideen über Menschenrechte und das elende Leben der Bauern. Als typischer Aufklärer war Merkel auch von der Kulturfähigkeit der Letten (sowie der Esten) überzeugt, die sich entfalten würde, sobald sich ihr Lebensstandard erst verbessert hätte. Merkels Ziel, die Veränderung der gesellschaftlichen Umstände, bedingte eine recht schwarzweiße Darstellungsweise. Damit einher ging eine Idealisierung der prähistorischen Zeit der livländischen Bauern. Das beste Beispiel dafür ist sein aus der Sicht der Geschichtschreibung als unseriös zu bezeichnendes Buch „Die Vorzeit Lieflands“ (1798–1799; in Fragmenten erschienen auch 1909 in estnischer Übersetzung unter dem Titel „Liiwimaa esiaeg“). Durch sein hohes Urteil über die vorchristliche Religion der Livländer sowie über deren Volksdichtung und Sprachen übte dieses Werk einen großen Einfluss auf das nationale „Erwachen“ und die Geburt der eigensprachigen Literatur der Letten, aber auch der Esten aus. In der estnischen Literaturgeschichte diente Merkel als Anregung sowohl für Friedrich Robert Faehlmann als auch für Friedrich Reinhold Kreutzwald und beeinflusste die von Carl Robert Jakobson geschaffene nationale Geschichtsauffassung. Das Leben der Liven um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert wird in Merkels Prosagedicht „Wannem Ymanta“ (1802) behandelt. Die Kritik an der Leibeigenschaft zieht sich als roter Faden durch seinen Kurzroman „Die Rückkehr ins Vaterland“ (1798). Der Abschaffung der Leibeigenschaft in Estland (1816) und in Livland (1819) ist sein Werk „Die freien Letten und Esthen“ (1820) gewidmet. In die deutsche Literaturgeschichte ging Merkel vor allem durch seine Literaturkritik in seinem Werk „Briefe an ein Frauenzimmer über die neuesten Produkte der schönen Literatur in Deutschland“ (1800–1803) ein. Die Kritik Merkels, der Alexander Pope und Voltaire zu seinen ästhetischen Vorbildern zählt, gehört in die Tradition der Spätaufklärung und setzt somit den von Friedrich Nicolai herbeigeführten Federkrieg gegen die Weimarer Klassik und die Romantiker fort. Merkels Angriffe gegen die Vertreter der Romantik sowie gegen J. W. Goethe, was in der deutschen Gelehrtenrepublik Feindschaft gegen ihn erregte, hatten aber auch einen persönlichen Hintergrund. Aus den Kreisen der Romantiker waren verächtliche Anmerkungen über J. G. Herder und J. J. Engel, die zu Merkels Freunden gehörten, lautbar geworden. Das negative Urteil der jüngeren Schriftstellergeneration, das sich als Reaktion darauf herausbildete, haftet Merkels Werken in der deutschen Literaturgeschichte bis heute an. Bedeutsam in sozial- und kulturgeschichtlicher Hinsicht sind vor allem Merkels Reiseberichte und autobiographische Schriften. In seinen Memoiren „Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche“, die von 1812 bis 1816 in vier Lieferungen erschienen, schildert Merkel auf eine für ihn typische leidenschaftliche Weise seine Beziehungen zu zahlreichen Schrifstellern seiner Zeit und begründet bzw. rechtfertigt u. a. auch seine Kritik an Goethe. Einen ähnlichen Geist atmet auch sein zweibändiges Buch „Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben“ (1839–1840), das ein interessantes Bild vom Literaturleben im Zeitalter der deutschen Klassik zeichnet. Nele Lopp |