Kristian Jaak Peterson (1801 – 1822)ÜbersichtLebenAls Sohn eines estnischen Kirchendieners in einer vorwiegend deutschsprachigen Umwelt beherrschte Kristian Jaak Peterson, der in Riga geboren wurde und aufwuchs, schon im frühen Alter Estnisch, Deutsch und Schwedisch, in späteren Jahren gab er noch Unterricht in Hebräisch, Griechisch, Latein, Russisch und Englisch und interessierte sich für exotische Sprachen. Schon als Gymnasiast ahmte er die Lebensweise der Kyniker aus dem antiken Griechenland nach (Reduzierung der Lebensbedürfnisse auf ein Minimum, unkonventionelle Nahrung und Kleidung, Mut und Schamlosigkeit als Grundsätze des Benehmens). Diesem Lebensstil blieb er bis ans Ende seiner Tage treu, was seiner Gestalt – vor allem im späteren Kulturbewusstsein – die Färbung eines mehr oder weniger national eingestellten, etwas aufsässigen Bohémiens verlieh. In den Jahren 1819–20 studierte K. J. Peterson an der Dorpater (Tartuer) Universität Theologie und lebte danach als Hauslehrer und freischaffender Literat in Riga. WerkDas Hauptwerk K. J. Petersons blieb zu seinen Lebzeiten und während des ganzen 19. Jahrhunderts seine mit Originalkommentaren versehene deutschsprachige Adaption „Finnische Mythologie“ (1821), die auf dem schwedischsprachigen traditionsgeschichtlichen Glossar „Mythologia Fennica“ (1789) von Kristfrid Ganander beruhte. Mit diesem Werk schuf Peterson die Grundlagen für die estnische nationale Mythopoesie. In Anlehnung an die finnische Mythologie versuchte er Überlieferungen über die altestnische Religion zusammenzutragen und somit das mutmaßliche estnische Pantheon wiederherzustellen. Dies hatte weitere mythologische Rekonstruktionen zur Folge und führte schließlich zur Zusammenstellung des estnischen Nationalepos „Kalevipoeg“ von Friedrich Reinhold Kreutzwald. Aus der Feder Petersons erschien in der Zeitschrift „Beiträge zur genauern Kenntniss der ehstnischen Sprache“ von Johann Heinrich Rosenplänter zwischen 1818 und 1823 auch eine Reihe deutschsprachiger Aufsätze zu linguistischen Fragen. Kein einziges estnischsprachiges Gedicht von Peterson ist zu seinen Lebzeiten gedruckt worden. Im Jahre 1823 wurden allerdings drei deutschsprachige Gedichte aus seinem Nachlass in Leipzig als poetischer Autonekrolog publiziert. Seit 1901 gab es in der estnischen Presse zwar erste Versuche, auch seine auf Estnisch geschriebene Poesie vorzustellen, jedoch fand sein estnischsprachiges dichterisches Werk erst im Rahmen der jungestnischen Bewegung „Noor-Eesti“ (1905–15) erstmals angemessene Beachtung. Seitdem gilt K. J. Peterson als Poesieerneuerer, der seiner Zeit weit voraus gewesen sei. In Buchform sind seine Gedichte (insgesamt ein paar Dutzend) mitsamt Prosatexten, die nur in spärlicher Anzahl vorliegen, erst im Jahre 1922 erschienen. 1996 wurde K. J. Petersons Geburtstag, der 14. März, in Estland zum Tag der Muttersprache erklärt. Eine repräsentative Auswahl von Petersons Texten in Übersetzung (zehn Oden in deutscher Sprache) bietet das Buch „IAAK. Kristian Jaak Peterson 200“ (2001). BedeutungDie estnischsprachige weltliche Literatur, zu einem Großteil Schöpfung von Pastoren, orientierte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch an einem bewusst primitivisierten Adressaten – an einem imaginären „Landvolk“. K. J. Peterson war einer der ersten, die ein estnischsprachiges Originalwerk im Hochstil anstrebten. Zu diesem Zweck verfasste er Gedichte mit naturphilosophischem Inhalt in einer Form, die man damals als geeignet ansah für pindarische Oden. Am reinsten spricht dies aus den so genannten großen Hymnen von Johann Wolfgang von Goethe aus der Sturm-und-Drang-Zeit: lange Satzperioden schlängeln sich in kurzen freirhythmischen Verszeilen dahin, was die Verwendung des Enjambements zur Folge hat. Ähnlich wie Pierre de Ronsard, der im 16. Jahrhundert die französische Poesie durch „Pindarisierung“ erneuern wollte, worin ihm Goethe gegen Ende des 18. Jahhunderts und Friedrich Hölderlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der deutschen Dichtung folgten, versuchte auch der originell „pindarisierende“ Peterson die estnische Poesie zu erneuern. Die von ihm gewählte Form stand zugleich für eine poetische Rebellion innerhalb der Hauptströmung der deutschbaltischen Dichtung, in der zu jenem Zeitpunkt ein den Regeln der syntaktischen Logik unterworfener glatter und wohlgereimter Vers Schillerscher Art vorherrschte. Das inhaltliche Grundmotiv von K. J. Petersons Oden ist dualistisch: die Parallelität von Natur und Ideenwelt sowie die Vergänglichkeit naturgegebener Formen im Gegensatz zur Fortdauer geistiger Bilder, die ihnen übergeordnet sind. Da weder Petersons Oden, noch seine dialogischen Schäferidyllen, in denen das aus der estnischen Volksdichtung bekannte Stilmittel des Parallelismus nachgeahmt wird, zu seinen Lebzeiten in Druck gelangten, war der „Rebellion“ kein Erfolg beschieden, und so brach der Jungpoet ohne Publikum mit dem Dichten (auf Estnisch) im Stile eines Arthur Rimbaud schon im Alter von achtzehn Jahren. Jaan Undusk |