Carl Gustav Jochmann (1789 – 1830)ÜbersichtStudium und SoldatenlebenCarl Gustav Jochmann wurde am 21. (10.) Februar 1789 im livländischen Pernau (Pärnu) als zweiter Sohn des Ratssekretärs Johann Gottlob Jochmann und dessen Frau Elisabeth Magdalene (geb. Schwander) geboren. Sein älterer Bruder Johann Ludwig Jochmann wurde Professor der Chirurgie an der Universität Dorpat (Tartu) (1811–1814). Seinen ersten Unterricht erhielt Jochmann ab 1795 in der Pernauer Stadtschule, von 1799 bis 1804 lernte er auf der Domschule in Riga. 1805 ging Jochmann nach Deutschland. Sein Jurastudium in Leipzig, Heidelberg und Göttingen dauerte bis 1809. In seine Studienjahre in Deutschland fällt auch eine Episode im Herbst 1806, als sich der 17-jährige Jochmann der napoleonischen Armee anschloss, um an der Befreiung Polens von der russischen Zarenherrschaft teilzunehmen. 1807 war er sogar bis zum Leutnant aufgestiegen, doch enttäuscht vom Soldatenleben verließ er das Regiment des Fürsten von Isenburg noch im selben Jahr. Nach Abschluss des Universitätsstudiums begab er sich für ein Jahr nach Lausanne in die Schweiz, um seine Französischkenntnisse auszuweiten. Jahre als Rechtsanwalt, Aufenthalt in England1810 kehrte Jochmann nach Riga zurück und ließ sich in der livländischen Metropole als (selbstständiger) Rechtskonsulent (bzw. Advokat, d. h. Rechtsanwalt) nieder. Zu seinem Freundeskreis in Riga gehörten Adolph Hehn (später Regierungssekretär), David Georg Kurtzwig (Medizinalinspektor), Andreas von Löwis of Menar (ab 1811 Sekretär der Livländischen Gemeinnützigen und Ökonomischen Sozietät in Dorpat), der Publizist Garlieb Merkel und der Kaufmann Conrad Heinrich von Sengbusch, aus dessen späterem Briefwechsel mit Jochmann die wichtigsten Angaben über den Lebenswandel des Autors nach dessen Abreise aus Livland stammen. 1812 floh Jochmann vor den heranrückenden napoleonischen Truppen nach England, wo er sich für zwei Jahre niederließ. Während seiner Aufenthalte in London, Oxford und Edinburgh lernte Jochmann die gesellschaftlichen Verhältnisse Englands kennen, eignete sich die englische Sprache an und vertiefte sich in die englische Geschichte, Philosophie und Literatur. Als Jurist war er vor allem am angloamerikanischen Rechtssystem interessiert. Die politische Kultur in England und die dort geltende Meinungsfreiheit prägten die Entwicklung von Jochmanns Gedankenwelt tief, der Vergleich mit England öffnete ihm die Augen für die soziale Rückständigkeit Livlands sowie Deutschlands. 1815 kehrte Jochmann zurück nach Riga, wo er seine Arbeit als Advokat fortsetzte. Seine Englischkenntnisse erweiterten sein Arbeitsfeld (Jochmann beriet in Riga u. a. englische Kaufleute), doch die Juristerei konnte seine geistigen Interessen auf Dauer nicht befriedigen. Unzufriedenheit mit seinem Brotberuf und das träge Geistesleben der Stadt veranlassten Jochmann, 1819 die Heimat zu verlassen. Unter dem „milderen Himmel“ Westeuropas hoffte er auch seine schwache Gesundheit zu stärken, der die anstrengenden Jahren im Juristenamt zugesetzt hatten. Das letzte Lebensjahrzehnt, literarische TätigkeitTrotz seiner ursprünglichen Absicht und des andauernden Gefühls der Heimatlosigkeit kehrte Jochmann nie mehr nach Livland zurück. Bis zu seinem Tod lebte er abwechselnd in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, zuletzt hauptsächlich in Baden-Baden und Karlsruhe. Obwohl er verschiedene Kurorte besuchte, stärkte sich seine Gesundheit nicht wesentlich und das letzte Jahrzehnt seines Lebens wurde von Krankheiten überschattet. Die letzten zehn Jahre seines Lebens wurden für Jochmann aber auch zu einer besonders schöpferischen Zeit. 1819 lernte er in Paris die deutschen Emigranten Graf Gustav von Schlabrendorf und den Schriftsteller und preußischen Legationsrat Konrad Engelbert Oelsner kennen. Ihre Erinnerungen bilden eine wichtige Quelle für Jochmanns spätere Essays, in denen die jüngste Geschichte Frankreichs sowie die Französische Revolution behandelt werden. Gespräche mit der äußerst eigenartigen Persönlichkeit Schlabrendorf, der wegen seiner demokratischen Anschauungen auf seine Standespriviliegien verzichtet hatte und seit der Französischen Revolution in einem Pariser Hotel wohnte, wirkten sich auf den Livländer Jochmann besonders befruchtend aus. Zum Teil gerade dem Boden von Schlabrendorfs Ideen ist Jochmanns bekanntestes Werk „Über die Sprache“ (1828) entsprossen. Jochmanns (anonymes) Druckdebüt fand 1821 in der Zeitschrift „Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit“ des aus Deutschland gebürtigen schweizerischen Schriftstellers und Aufklärers Heinrich Zschokke statt. Auch in den folgenden Jahren erschienen in dieser Zeitschrift ein paar Essays aus Jochmanns Feder. Dem damals sehr beliebten Schriftsteller Zschokke war er zum ersten Mal 1820 in Aarau in der Schweiz begegnet. Aus der Begegnung erwuchs eine lebenslange Freundschaft. Durch Zschokkes Vermittlung lernte er den Heidelberger Universitätsbuchhändler Christian Friedrich Winter kennen, seinen späteren Herausgeber, der liberale Ansichten vertrat. Vor allem aber ist Zschokke die Erhaltung von Jochmanns Schaffen zu verdanken: Jochmann vermachte ihm alle seine unveröffentlichten Manuskripte. Zschokke publizierte diese Texte nach dem Tod seines Freundes in seiner Zeitschrift „Prometheus“ und dem Auswahlband „Reliquien“ (1836–1838). In die „Reliquien“ hatte er auch Jochmanns früher im Druck erschienene Essays und Aphorismen aufgenommen. Ab 1824 wurden Jochmanns Briefe an Sengbusch in Riga seltener, daher sind Nachrichten über sein Leben in der Periode, während deren die meisten seiner Werke in Buchform in den Druck gelangten, ziemlich knapp. 1828 unterzog sich Jochmann in Hanau einer homöopathischen Behandlung, die sich wohltätig auf seine Gesundheit auswirkte und ihn dazu veranlasste, „Briefe eines Homöopatischgeheilten an die zünftigen Widersacher der Homöopathie“ (1829) zu schreiben, ein Werk, das diese alternative Heilpraktik in Schutz nimmt. Jochmann starb am 24. Juli 1830 in Naumburg an der Saale, auf dem Weg zu Samuel Hahnemann, dem Begründer der homöopatischen Lehre, von dessen Hilfe er sich eine Linderung für seine Krankheit (er litt an Schwindsucht) erhofft hatte. Gemäß dem Wunsch, den Jochmann in seinem Testament geäußert hatte, wurde sein Herz „in einem einfachen Porzellangefäße“ nach Riga gesandt, zu seinem Freund Sengbusch, in dessen Garten es seine letzte Ruhestätte fand (seit 1910 befindet sich Jochmanns Herz in einer Metallurne mit der Aufschrift „COR IOCHMANNII“ im Rigaer Domklosterhof). In seinem letzten Willen gedachte Jochmann auch seiner Geburtsstadt Pernau, wo er bis zu seinem zehnten Lebensjahr aufgewachsen war. Er spendete 15 000 Silberrubel für den „Fond einer Stiftung zur Unterstützung und Einrichtung von Schulen für die Kinder des estnischen Landvolkes in meiner Vaterstadt Pernau und im Pernauschen Kreise“. Eine sog. Jochmannsche Schule wurde 1873 in Pernau tatsächlich gegründet, sie existierte bis 1917 in der Pühavaimu-Straße 26 (heute befindet sich an der Wand dieses Hauses eine Gedenktafel). SchaffenJochmann war in erster Linie ein politischer Schriftsteller, der mit seinen Werken den Menschen die Augen öffnen, sie zum Denken anregen und aufklären wollte. Er ist sogar als „einer der größten revolutionären Schriftsteller Deutschlands“ bezeichnet worden (W. Benjamin). Durch sein vielseitiges und von einem guten Stilgefühl zeugendes Schaffen, das durch die englische Demokratie, die Französische Revolution und den amerikanischen Freiheitskampf angeregt wurde, zieht sich als roter Faden ein radikal kritischer Grundzug. Jochmanns Kritik gilt nicht nur den sozialen Missständen der deutschen Restaurationszeit, er kritisiert auch die herrschenden Auffassungen in der Medizin („Briefe eines Homöopatischgeheilten…“), den Zustand der deutschen Sprache („Über die Sprache“), die Erscheinungsformen der Religion im Katholizismus („Die Hierarchie und ihre Bundesgenossen in Frankreich“) sowie im Protestantismus („Betrachtungen über den Protestantismus“). Mit Jochmanns eigenen Worten gesagt: „Die Menschheit schreitet langsam vorwärts, es ist wahr; aber es kostet ihr, wie jedem Einzelnen, unglaubliche Mühe, zum gesunden Menschenverstand zu gelangen.“ („Das Räthsel“ in „Reliquien“ [2, 56]). Als Kind der Aufklärung glaubte Jochmann, dass die Vernunft am Ende siegen würde, auch wenn ihm das unglaubwürdig vorkam. Die wichtigsten Werke Jochmanns sind der Sprache gewidmet. Es sind dies allerdings keine Sprachbücher im engeren Sinne. In seinem Hauptwerk „Über die Sprache“ ist die Sprachkritik eng mit der Kritik an der Gesellschaft verbunden, denn der Zustand der Sprache spiegelt nach Jochmann das Entwicklungsniveau der Gesellschaft wider. Von der Pressefreiheit und den Problemen mit Macht und Herrschaft handelt Jochmanns Essay „Über die Öffentlichkeit“ (1830, Aufl. 2 1837). Wie die schottischen Aufklärer mit J. Mill an der Spitze, die Jochmann beeinflusst haben, ist auch er davon überzeugt, dass die Öffentlichkeit die einzige Macht sei, die die Demokratie gewährleisten und dem Machtmissbrauch vorbeugen kann. Eine Ausnahme in der politischen Literatur seiner Zeit bildet Jochmanns Abhandlung „Robespierre“, wo er versucht das Phänomen von Robespierre zu analysieren, ohne Gewalt und Fanatismus zu rechtfertigen. In diesem Werk konzentriert er sich auf die Sprache als Mittel, den Menschen bzw. deren Gedanken Herr zu werden. Im Schaffen Jochmanns, den man den begabtesten Publizisten der baltischen Länder genannt hat, gibt es nur wenige als typisch deutschbaltisch geltende Züge. Im Unterschied zu vielen deutschbaltischen Reiseschriftstellern vergleicht er auch niemals seine baltische Heimat mit seinem deutschen Mutterland. Ebensowenig lassen sich Jochmanns Werke mit den zu seiner Zeit vorherrschenden literarischen Strömungen in Deutschland – der Weimarer Klassik und der Romantik – in Zusammenhang bringen. Wohl auch deshalb blieb Jochmann bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ein eher wenig bekannter Autor. Seine Unbekanntheit wurde durch die paradoxe Tatsache vergrößert, dass Jochmann, der sich für das öffentliche Wort stark machte, mit allen seinen Werken anonym vor die Öffentlichkeit trat. Nele Lopp |