Карл Петерсен (1775 – 1823 ?)ÜbersichtKindheit in Dorpat, Studium in JenaCarl Friedrich Ludwig Petersen wurde am 16. (27.) Juni 1775 in Dorpat (Tartu) als ältestes Kind des aus Pernau (Pärnu) gebürtigen Ratssekretärs und Geschäftsmannes Christian Friedrich Petersen und dessen Gattin Sophie Louise (geb. Sonn) geboren. Nachdem er zu Hause seinen ersten Unterricht erhalten hatte, besuchte er ab 1783 die Dorpater Stadtschule. Am 26. Oktober 1793 wurde er in Jena, in der damals bei den Balten beliebtesten Universitätsstadt, immatrikuliert. Mehr als Theologie faszinierte Petersen in Jena jedoch die Literatur im weitesten Sinn. So war er einer der aktivsten Jenaer Studenten, die im Sommer 1794 eine von den Ideen der Aufklärung und des Humanismus getragene Gesellschaft gründeten. Gefördert wurde die Litterärische Gesellschaft der freien Männer vom außerordentlichen Professor der Philosophe in Jena, J. G. Fichte, dessen Jenaer Jahre (1794–1799) mit der Zeit der Existenz dieser Studentenorganisation zusammenfielen. Litterärische Gesellschaft der freien Männer, gezwungener Abschied aus JenaVon den zehn Gründungsmitgliedern des Freundeskreises, der sich die Gleichheit (im nationalen, religiösen und ständischen Sinn) auf die Fahne schrieb, waren sage und schreibe sechs Balten, u. a. auch der spätere herausragende Publizist Friedrich Ludwig Lindner. Später schloss sich den „freien Männern“ auch der romantische Dichter Casimir Ulrich Boehlendorff aus Kurland an, mit dem Petersen auch danach noch verkehrte. Im Geiste des Vorlesungszyklus „Über die Bestimmung des Gelehrten“ von Professor Fichte setzten sich die Mitglieder dieser bildungsfreudigen Gesellschaft zum Ziel, „sich zum Repräsentanten der besseren Menschheit zu bilden“. Sie distanzierten sich von den traditionellen Studentenverbindungen und konzentrierten sich auf literarische Aktivitäten. Einmal pro Woche wurden zu Fragen der praktischen Philosophie Vorträge gehalten. Der einzige von Petersen gehaltene Vortrag hieß „Über Menschenkenntnis“. Als Nachspiel eines Krawalls in der Sylvesternacht von 1794 auf 1795, in dessen Verlauf die Fenster von Fichtes Wohnung eingeworfen wurden, wurden im Mai 1795 drei Studenten von der Universität Jena verwiesen, u. a. auch der Livländer Carl Petersen, der Ende Januar desselben Jahres auch aus der Litterärischen Gesellschaft der freien Männer (nach dem Protokoll „wegen seines bezeigten Mangels an Interesse für die Gesellsch[aft]“) ausgeschlossen worden war. Dieses Ereignis war in der Geschichte der Gesellschaft einmalig. Ab 1794 gehörte Petersen auch dem Orden der Unitisten (einer offiziell verbotenen Studentenorganisation) an, der sich den Bestrebungen von Fichte und der „Freien Männer“, diesen Orden aufzulösen, widersetzte. Petersen, der in Jena ein stürmisches Burschenleben führte, gehörte auch zu denjenigen, die mit F. Schiller Umgang hatten. Als außerordentlicher Professor der Geschichte hatte Schiller 1789–1793 in Jena Vorlesungen gehalten und sich danach der Herausgabe der Zeitschrift „Die Horen“ (1795–1797), des wohl wichtigsten Organs der deutschen literarischen Klassik, gewidmet. Es ist unklar, ob und wann Petersen in Halle Theologie studierte. Die zuverlässigsten Biographien des Schrifstellers lassen die Periode in Halle den Jenaer Jahren, die auf 1795–1798 datiert werden, vorangehen, nach neueren Forschungsergebnissen ist diese chronologische Reihenfolge jedoch ausgeschlossen. Petersen kann in Halle – wenn überhaupt – erst ab 1795 studiert haben, d. h. nachdem er in Jena von der Universität geflogen war. Der letztere Umstand ist in seinen Biographien allenfalls nur andeutungsweise zur Sprache gekommen, auch werden seine angeblich in Halle verbrachten Jahre nirgendwo geschildert. 1798 wurden alle im Ausland studierenden Untertanen des Russischen Reichs per Ukas von Zar Paul I. zurück nach Hause gerufen. So war auch Petersen, der Autor des Burschenliedes „Der alte Bursch“ (1795), gezwungen, sein Studium – spätestens also jetzt – abzubrechen. Arbeit als erster Bibliothekar und Deutschlektor der Universität DorpatZurück in Dorpat, arbeitete Carl Petersen zunächst als Hofmeister bei Geheimrat B. C. von Vietinghoff, dem jüngeren Bruder der späteren Erfolgsautorin Juliane von Krüdener. In diesem Amt musste er sich vor allem auf Schloss Marienburg (Alūksne) und in Dorpat aufhalten, doch besuchte er zuweilen auch Riga (Rīga) und Sankt Petersburg. Im Jahre 1802, nach der Wiedereröffnug der Universität Dorpat, wurde Petersen Sekretär sowohl der Universitätsbibliothek als auch der Zensurkommission. Diese Stellen hatte er als pünktlicher und zuverlässiger Beamter (1812 Titularrat, 1819 Kollegienassessor) bis zum Ende seines Lebens inne, ohne Dorpat länger zu verlassen. (Übrigens war sein jüngerer Bruder Georg Gustav Petersen, eine eigensinnige Erscheinung in seinen Studienjahren und später ein einflussreicher Jurist, zufälligerweise der erste in Dorpat immatrikulierte Student.) Bis zum Jahre 1818 arbeitete Petersen zugleich als erster Lektor der deutschen Sprache an der Universität Dorpat. Sein Sprachkurs, der zwei Mal in der Woche stattfand und vor allem für nichtdeutsche Studenten gedacht war, konzentrierte sich hauptsächlich auf die Grammatik. Im Jahre 1803 heiratete Petersen eine französischsprachige Genferin Pauline Duvernoy (gest. 1842), die zu der Zeit, als sie einander kennenlernten, noch als Gouvernante in Ringen (Rõngu) beim Präsidenten des Kuratoriums der Universität G. A. Graf Manteuffel arbeitete. Gesellschaftsleben in Dorpat, der „Winkel-Clubb“Der literarisch interessierte und begabte Carl Petersen wurde zu einer wichtigen Figur im Kreis der Literaten der jungen Universitätsstadt Dorpat, wo in der „akademischen Urzeit“ (J. Eckardt), d. h. in den ersten Jahren nach der 1802 erfolgten Wiedereröffnung der Universität, noch nicht so scharf zwischen Professoren und Studenten unterschieden wurde. In diesem Freundeskreis, der sich zunächst im Café bei Volkmann, später bei Richter traf, im sogenannten „Winkel-Clubb“, galt Petersen als strahlender Mittelpunkt. Die Mitglieder dieses Kulturklubs, in dem ein burschikoser Umgangston herrschte, waren für das Zeitalter typisch bunt gemischt: neben Lehrkräften (z. B. dem Dekan der philosophischen Fakultät und Rektor F. E. Rambach; dem Professor der Chirurgie J. C. Moier; dem ersten Lettischlektor und Petersens Kollegen, zugleich seinem Schwager O. B. G. Rosenberger), Beamten und Lehrern (z. B. Martin Asmuss) und Studenten gehörten dem Klub auch einige Geschäftsleute und Handwerker von Dorpat an, sogar der Pastor der Dorpater Johanniskirche, der spätere Professor der praktischen Theologie G. E. Lenz, war im „Winkel-Clubb“ zu Hause. Zum Freundeskreis des sehr geselligen Petersen, der „Der Dicke“ genannt wurde, gehörte z. B. auch der russische Poet Wassili Schukowski, einer der Begründer der russischen Romantik, der ab 1815 wiederholt Dorpat besuchte. Neben der Erfüllung seiner Amtspflichten fand Petersen Zeit und Gelegenheit, auch allerlei Lexika, die deutschen Wortschatz aus dem Baltikum (Sprichwörter, Redewendungen, Schlagreime, Gaunersprache) registrierten, zusammenzustellen – zur Ergänzung von August Wilhelm Hupels „Idiotikon der deutschen Sprache in Liv- und Esthland“ (1795). Die Handschriften dieser Werke, die niemals im Druck erschienen sind, sind wahrscheinlich nicht mehr erhalten. Petersen beschäftigte sich auch mit dem Sammeln von Subskribenten für die Kulturzeitschrift „Dörptische Beyträge“ (1813–1816) von Karl Morgenstern. Die letzten LebensjahreDie letzten Lebensjahre von Petersen standen im Schatten nicht nur seiner finanziellen Schwierigkeiten und seines nachlassenden Gehörs, sondern waren auch wegen ernsthafter Probleme in seiner Familie kompliziert: Sein erstes Kind kam tot zur Welt und die folgenden zwei Kinder starben im Alter von nur ein paar Jahren. Infolgedessen verschlechterte sich die Gesundheit seiner Ehefrau, die allmählich dem religiösen Fanatismus (tiefe Zweifel an ihrer und ihres Mannes Rechtgläubigkeit) und schließlich dem Wahnsinn verfiel. So sah sich Petersen gezwungen, sein einziges Kind Freimund (geb. 1816) im Jahre 1822 bei einem seiner Freunde, Karl Ernst Berg, dem Probst von Pernau und dem späteren Generalsuperintendenten Livlands, in Hallist (Halliste) in Pflege zu geben. Zu Weihnachten desselben Jahres, während Petersen zusammen mit seinem jüngeren Bruder Otto und einem estnischen Fuhrmann zum ersten Mal nach Hallist zu seinem Sohn fuhr, stürzte ihr Wagen auf dem Winterweg, der über den zugefrorenen Wirzjärw (Võrtsjärv) führte, in eine Eisspalte. Obwohl der übergewichtige Bibliothekar aus dem Wasser geborgen werden konnte, erlitt er wegen stundenlangen Wartens auf Hilfe bei bitterer Kälte schwere Frostschäden. Die erste Hilfe, die ihm der Professor der Chirurgie J. C. Moier, der aus Dorpat angereist war, auf dem Pastorat Tarwast (Tarvastu) und danach schon in der Universitätsklinik in Dorpat leistete, war nicht genug: Carl Petersen starb in Dorpat am 31. Dezember 1822 / 1. Januar 1823 (12./13. Januar 1823) im Alter von nur 47 Jahren. Die Abschiednahme von ihm im Auditorium Maximum der Universität Dorpat fand am 5. Januar 1823 statt. Die Leichenpredigt wurde von G. E. Lenz gehalten. Die verwitwete Gattin von Petersen kehrte 1825 in ihre Schweizer Heimat zurück und starb Jahre später bei ihren dortigen Verwandten. Belletristisches SchaffenDer mit Erzähltalent begnadete Carl Petersen war im Hinblick auf die Veröffentlichung seiner vor allem humoristisch-satirischen Texte äußerst zurückhaltend. Als selbständiges Druckwerk erschien von Werken aus seiner Feder im Jahre 1812 nur das derb-komische Versdrama „Die Prinzessin mit dem Schweinerüssel (Eine Burleske für ombres chinoises)“, dessen Titel den Titel eines Marionettenspiels des namhaften deutschen Satirikers J. D. Falk zitiert. Petersens Versdrama ist eine scharfe Satire auf den wuchernden Massengeschmack (August von Kotzebue) und die grobschlächtige Publizistik (Garlieb Merkel). Petersen ergreift das Wort für die Tradition der literarischen Klassik (J. W. Goethe, F. Schiller) sowie für die romantische Schule, verurteilt aber auch die Vergötterung dieser Literatur. Gleichzeitig treibt er seinen Spott mit der kulturellen Rückständigkeit des provinziellen Baltikums: mit dem egozentrischen Dilettantismus der ambitionierten Schriftsteller von Riga, der zahmen Befangenheit der Literaten von Dorpat und der Spießigkeit der Einwohner von Reval (Tallinn). Einige Gedichte von Petersen erschienen auch schon zu seinen Lebzeiten in ein paar Sammelbänden bzw. Zeitschriften, die in Dorpat herausgegeben wurden. Besonders hervorhebenswert darunter sind das komische Poem „Die Wiege“, das den Untertitel „Ein Schwank“ trägt, und die komische Verserzählung „Abentheure von Reineke dem Fuchs, Lüning dem Spatz und Morholt dem Rüden“ in neun Kapiteln (beide in Knittelversen gehaltene Dichtungen erschienen 1820 in der Dorpater Zeitschrift „Inländisches Museum“ von Carl Eduard Raupach). Die Mehrheit seiner Werke besteht jedoch aus Gelegenheitsgedichten an seine engsten Freunde, Texte, die noch Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift vor allem mündlich verbreitet wurden, die aber heute, ohne Kenntnis des Kontextes, oft etwas sperrig wirken. Obwohl schon 1824 die Subskription der gesammelten Werke von Petersen eröffnet worden war, wurde aus diesem großangelegten Projekt nichts. Erst 1846 konnte ein Auswahlband seiner Texte unter dem Titel „Karl Petersen’s poetischer Nachlass“ herausgegeben werden. Die ohnehin wenigen Exemplare dieser Ausgabe waren wegen der großen Zahl an anstößigen Ausdrücken in etlichen Texten des ehemaligen Sekretärs der Zensurkommission jedoch nicht einmal zum Verkauf bestimmt. ZusammenfassungCharakteristisch für die geistreichen, erfinderisch gereimten Gedichte von Carl Petersen – kulturhistorisch wichtige Abbildungen der Anfangsjahre der Universität Dorpat – ist der verhältnismäßig große Reichtum an genuin baltischem Wortschatz (die sog. Livonismen, aber auch estnische Wörter und Wendungen), die sonst nur höchst selten gedruckt wurden, neben einer für den hohen Stil typischen Wortwahl und der akademischen Redeweise (lateinische Ausdrücke usw.). Als guter Estnischkenner übersetzte Petersen, „ein weiser und sehr guter Mann“ (Otto Wilhelm Masing), der u. a. mit dem estophilen Literaten Johann Heinrich Rosenplänter verkehrte, auch zwei estnische Volkslieder ins Deutsche: „Klage um den Bruder“ und „Klage der Tochter“ sowie zwei finnische Wiegenlieder („Zwei Wiegenliedchen“), die zum ersten Mal in der Ausgabe „Neujahrsangebinde für Damen“ (Dorpat, 1817) erschienen. In Carl Petersen, dem Verkörperer des Geistes der Anfangszeit der neugegründeten Dorpater Universität, dem „Realidealisten“ (J. von Grotthuss), hat die Literaturkritik einmütig den einzigen wirklich populären baltischen Dichter im Baltikum gesehen. Als einer von wenigen wurde Petersens dichterisches Talent schon zu seinen Lebzeiten von seinen Landsleuten anerkannt. Die besondere Qualität und die Eigenart von Petersens Gedichten in seiner Zeit wird auch von Gero von Wilpert, der sonst mit Lob über die baltischen Dichter eher knausert, in seiner „Deutschbaltischen Literaturgeschichte“ (2005) ausdrücklich und wortreich gewürdigt. Die Geschichte der Weltliteratur kennt den Dorpater Bibliothekar höchstens als jemanden, dessen Zusammenarbeit mit einem seiner besten Freunde und einstigen Kommilitonen, dem Felliner (Viljandi) Kreisarzt Georg Friedrich Dumpf, einen beträchtlichen Teil des handschriftlichen Nachlasses des Sturm-und-Drang-Autors Jacob Michael Reinhold Lenz, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts schon fast völlig in Vergessenheit geraten war, dem Verschwinden entrissen hat. Vahur Aabrams |