Вильгельм Карлович Кюхельбекер (1797 – 1846)ÜbersichtLebenslaufWilhelm Küchelbecker wurde am 21. (10.) Juni 1797 in Sankt Petersburg geboren. Sein Vater Karl Heinrich Küchelbecker, geboren in Bautzen (Oberlausitz) und in den 1770er Jahren nach Russland eingewandert, war ein vielseitig gebildeter Mann: er hatte umfassende Kenntnisse in Jura, Wirtschaft und Agronomie. Vermutlich hatten während seines Studiums in Leipzig auch Johann Wolfgang Goethe und Alexander Radischtschew zu seinen Mitstudenten gehört. Auf Fürsprache einflussreicher Verwandter hatte er beim russischen Großfürsten (dem späteren Zaren) Paul eine Sekretärstelle bekommen und war später Vorsteher des Pawlowsk-Palastes geworden. Die im lettischsprachigen Teil Livlands in Segewold (Sigulda) geborene Mutter von Wilhelm Küchelbecker, Justine Elisabeth Lohmann, deren Großvater aus Lüneburg stammte, arbeitete als Pflegerin des jüngsten Sohnes des Zaren, des Prinzen Michail. 1798 stellte Paul I. Karl Heinrich Küchelbecker das Gut Awwinorm (Avinurme) im nordlivländischen Kreis Dorpat (Tartu) (jetzt im estnischen Ida-Virumaa) zur lebenslangen Benutzung zur Verfügung. In Awwinorm verbrachte Wilhelm auch seine Kindheit. Sein Vater erwies sich als sehr fleißiger Gutsherr, der, wie es heißt, auch für das Wohlergehen seiner Bauern zu sorgen bestrebt war. Während der Hungersnot von 1808 etwa war Awwinorm gerade dank seines Einsatzes einer der wenigen Orte in Livland, wo es keine Todesopfer zu beklagen gab. Dennoch kann die Familie Küchelbecker nicht als reich bezeichnet werden. Materialien und Quellen über das Leben der Küchelbeckers in Awwinorm sowie über ihr Verhältnis zu den Bauern des Ortes sind enthalten im Aufsatz „Wilhelm Küchelbeckeri eluloo eesti leheküljed“ (Tartu, 1998) von Malle Salupere. 1807 erkrankte Wilhelm Küchelbecker schwer und wurde infolge der Krankheit auf seinem linken Ohr taub. Der Vater von Küchelbecker starb 1809 an Schwindsucht. Vor seinem Tod hatte er sich mit dem Gesuch an den neuen Zaren Alexander I. gewandt, das Gut Awwinorm seiner Ehefrau Justine Elisabeth zur lebenslangen Benutzung zu überlassen. Das Gesuch wurde mit dem Vorwand, das Gut sei schon der Universität Dorpat versprochen, jedoch abgelehnt. Nach dem Tod des Vaters übernahm die ältere Schwester von Wilhelm, Justine (1784–1871), die Pflege für die Familie. Sie war mit Grigori Glinka, Professor für russische Sprache und Literatur in Dorpat und später Lehrer der Großfürsten Nikolai (des späteren Zaren Russlands) und Konstantin, verheiratet. Schon 1808 wurde Wilhelm auf Johann Friedrich Brinckmanns Privatpension im livländischen Werro (Võru) geschickt. Der Lehrplan der Schule war sehr umfangreich, u. a. gehörten zu den Fächern, die in der Werroer Pension unterrichtet wurden, verschiedene Sprachen sowie Realwissenschaften. Dank der in dieser Schule erworbenen gründlichen Bildung konnte Küchelbecker 1811 die Aufnahmeprüfung zum Lyzeum in Zarskoje Selo, zu denen er auf Fürbitte eines seiner weitläufigen Verwandten, des Fürsten Michael Andreas Barclay de Tolly, zugelassen worden war, glänzend bestehen. Über das Leben des ersten Jahrganges des Lyzeums gibt es ausführlich Literatur. Viel ist auch über Küchelbeckers Fleiß geschrieben worden, sowie über seine Talente, die auch der Leitung des Lyzeums nicht entgingen. Gleichzeitig hatte er einen sehr wankelmütigen und aufbrausenden Charakter, der sich infolge des Spotts, dem er ständig ausgesetzt war, noch stärker ausprägte. Ausgelacht wurde er wegen seines schlechten Gehörs und seiner lückenhaften Russischkenntnisse, aber auch wegen seiner literarischen Orientierung an eher deutschsprachgen Autoren, vor allem an Salomon Gessner und Friedrich Gottlieb Klopstock. Sogar sein missglückter Versuch, sich zu ertränken, löste nur eine neue Welle von Hohn und Spott aus. Charakteristisch für Küchelbecker war aber seine große Herzensgüte, und mithilfe seiner Kenntnisse und Hartnäckigkeit gelang es ihm schließlich, die Achtung seiner Mitschüler zu erwerben. In diese Periode, während deren er mit seinen Angehörigen in Awwinorm in aktivem Briefwechsel stand, fallen auch seine ersten dichterischen Versuche sowohl in deutscher als auch in russischer Sprache. Küchelbecker schloss das Lyzeum mit einer Silbermedaille ab und wurde zusammen mit seinem Schulkameraden Alexander Puschkin im Sommer 1817 am Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten angestellt. Gleichzeitig begann er am Adelspensionat des Pädagogischen Instituts russische Literatur zu unterrichten. Zu seinen Schülern gehörten u. a. Lew Puschkin (der jüngere Bruder von A. Puschkin), und der spätere Komponist Michail Glinka. Es ist bekannt, dass Küchelbecker auf Rat von Wassili Schukowski die Professur für russische Sprache an der Universität Dorpat anstrebte, jedoch vergeblich. Am 8. November 1820 trat er als Sekretär des Oberkammerherrn A. Naryschkin eine Reise durch Westeuropa an. Das Ergebnis dieser Reise war sein Reisebericht „Путешествие“ („Reise“), der größtenteils 1824–1825 in verschiedenen Zeitschriften erschien. Traditionell beginnt Küchelbecker seine Reise in den baltischen Provinzen, doch wird dieser Landstrich in seinen Briefen nur relativ wenig beachtet, seine Schilderungen ahmen die zeitgenössischen romantischen Konventionen nach. Z. B. wird Narva als eine alte Stadt geschildert, vor deren Anblick der Autor, angeregt durch die Grabplatten in der St. Petri-Kirche, über das Leben in dieser Stadt phantasiert. In seinen Naturschilderungen herrscht das Trübe und Neblige vor, betont wird der nordische Charakter der Landschaft. Wenn Küchelbecker ganz kurz die Völker der baltischen Länder miteinander vergleicht, neigt sich seine Sympathie den Kurländern zu, doch sein Vergleich geht lediglich vom äußeren Eindruck aus, den er vor dem Hintergrund der physischen Schönheit der Antike bewertet. Überhaupt kann man die Kunst für eines der Hauptthemen in der „Reise“ halten. Besonders aufmerksam berichtet Küchelbecker von den Eindrücken, die er auf der Reise von berühmten Gemälden gewonnen hat (z. B. in der Galerie in Dresden) In seinen Briefen werden auch Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten erwähnt. So beschreibt Küchelbecker in der Reihe seiner Berliner Eindrücke ausführlich das Erlebnis, das ihm die Musik des 15-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy bereit habe. In Dresden begegnete Küchelbecker auch der damals schon 65-jährigen kurländischen Dichterin Elisa von der Recke. Voll Begeisterung bezeichnet Küchelbecker sie als den „ehrwürdigen, glänzenden, bescheidenen Liebling der Musen“. Er lernte auch ihren Lebensgefährten Christian August Tiedge kennen, mit dem er sich über die zeitgenössische russische Literatur unterhielt und dem er das Gedicht „Роза“ („Rose“) von Puschkin zum Übersetzen gab. Küchelbecker traf sich auch mit Ludwig Tieck, der nach seinem Urteil ein „äußerst interessanter Mensch mit einer eigenartigen Gedankenwelt“ war. Sie unterhielten sich über Werke von Klopstock, Christoph Martin Wieland und Novalis. In Weimar begegnete Küchelbecker dem schon bejahrten Goethe und übergab ihm einen Brief von dessen Jugendfreund Friedrich Maximilian Klinger. Goethe schenkte dem angehenden Dichter sein Buch „Maskenzug“ mit seinem Namenszug. In Paris geriet Küchelbecker mit seinen Vorlesungen „Свойства нашей поэзии и языка“ („Die Eigenschaften unserer Poesie und Sprache“), die er in der durch ihre freisinnige Haltung bekannten Gesellschaft „Athenée“ hielt, ins Blickfeld der lokalen Behörden. Infolge dessen musste er unverzüglich nach Russland zurückkehren. Die genaue Anzahl seiner Vorlesungen ist unbekannt. Bis heute ist nur eine von ihnen überliefert – der Autor erlaubt sich darin auch Kritik an der Leibeigenschaft. Zurück in Russland wusste Küchelbecker zunächst nicht, wie es weitergehen sollte. Im September 1821 fuhr er in den Kaukasus, um unter General Alexei Jermolow zu dienen. Er frischte dort seine Bekanntschaft mit Alexander Gribojedow auf. Doch auch hier geriet er mit den Behörden in Konflikt: nach einem Streit und einem Duell mit einem Verwandten von Jermolow zog Küchelbecker sich aus dem Militärdienst zurück. Im Mai 1822 nahm er seinen Abschied und lebte danach etwa ein Jahr lang bei seiner Schwester Justine auf deren Gut Zakup im Gouvernement Smolensk. Aus dieser Zeit stammt seine „estnische Erzählung“ „Адо“ („Ado“). Im Juli 1823 fuhr Küchelbecker nach Moskau, wo er an der Universitätspension Vorlesungen hielt und zugleich Privatunterricht gab. Zusammen mit Wladimir Odojewski begann er nun auch mit der Herausgabe des Almanachs „Мнемозина“ („Mnemosyne“). Doch dieses Projekt wurde kein Erfolg. Auch eine Reihe anderer Pläne von ihm konnten nicht realisiert werden: die Arbeit im Finanzministerium, eine Professorenstelle an der Universität Edinburgh oder auf der Krim. In dieser Periode stand Küchelbecker in engem Kontakt mit den russischen Schriftstellern Kondrati Rylejew und Alexander Bestuschew. Am Vorabend des Dekabristenaufstandes wurde Küchelbecker von Rylejew als neues Mitglied in den geheimen Nordbund aufgenommen. Während des Aufstandes am 14. Dezember 1825 war Küchelbecker einer der aktivsten Menschen auf dem Senatsplatz und versuchte auf den Großfürsten Michail (seinen sog. Milchbruder) zu schießen. Sein Versuch über Warschau ins Ausland zu fliehen missglückte: nach einem von Faddei Bulgarin verfassten Steckbrief wurde Küchelbecker am 19. Januar 1826 erkannt und verhaftet. Er wurde zunächst zum Tod verurteilt, die Strafe wurde jedoch in 20 Jahre Zuchthaus abgewandelt (und später auf fünfzehn Jahre herabgesetzt). Dank guter Beziehungen seiner Verwandten zur Zarenfamilie wurde auch diese Strafe abgemildert: Küchelbecker wurde zu Einzelhaft in der Festung Dünaburg (Daugavpils) (in Lettgallen (Latgale) im Gouvernement Witebsk, heute in Lettland) verurteilt. Auf dem Weg dorthin fand eine Begegnung zwischen ihm und Puschkin statt, ihre letzte. Puschkin versah seinen Freund fortan mit neuerer Literatur und erhielt 1835 sogar die Erlaubnis, einen Teil von Küchelbeckers Mysterium „Ижорский“ („Ischorski“) anonym in den Druck zu geben. Der gefangene Küchelbecker lebte in Dünaburg unter relativ milden Bedingungen: er hatte das Recht Briefe zu schicken und zu emfpangen, er durfte Bücher lesen und auch mit einem Geistlichen Kontakt haben. Im April 1831 wurde er in die Festung Domberg in Reval überführt. Dort blieb er bis zum 7. Oktober 1831, dann wurde er in die Festung Suomenlinna (Sveaborg) unweit von Helsinki gebracht. Küchelbecker wurde am 14. Dezember 1835 entlassen und sogleich nach Bargusin in Sibirien (Burjatien) verbannt. Die erste schriftstellerische Arbeit, die Küchelbecker in der Freiheit verfasste, war die russische Übersetzung einer Parabel von Johann Gottfried Herder. In Bargusin erhielt Küchelbecker ein Stück Land, auf dem er sich ein Haus baute. In der Verbannung heiratete er die Tochter des örtlichen Postmeisters, Drosida Artenjewa. Die Abgeschiedenheit von Kulturzentren und die miserablen Schaffensbedingungen konnte er nur mühsam verkraften. Er zog mehrfach um: nach Akscha, Kurgan, Irkutsk und Tobolsk, wo sein letzter Wohnsitz blieb. Seine Gesundheit verschlechterte sich, er verlor das Augenlicht und starb am 23. (11.) August 1846. SchaffenDie literarische Position, die Küchelbecker vertrat, kann mit gewissen Vorbehalten als romantisch bezeichnet werden: er forderte von der Literatur Originalität und Einzigartigkeit und verknüpfte diese Kriterien mit einem nationalen Element. Diese romantische Forderung hing auch mit der Suche nach neuen nationalen Formen zum Ausdruck einer poetischen Botschaft zusammen, und damit stand Küchelbecker schon mit seinen „komplizierten“ Werken aus der Lyzeumszeit den Ansichten der literarischen Gesellschaft „Беседа любителей русского слова“ („Gesprächsrunde der Liebhaber des russischen Wortes“) sehr nah. Die vorherrschende literarische Richtung auf dem Lyzeum war jedoch mit der Nachahmung französischer Vorbilder verbunden. In diesem Kontext wird Küchelbeckers Verbundenheit mit den Werken von M. Lomonossow, G. Derschawin, A. Radischtschew und S. Schirinski-Schichmatow verständlich. Seine während der Lyzeumsjahre verfassten Gedichte („Сократизм“, „Гимн Бахусу“, „Бессмертие есть цель жизни человеческой“) zeichnen sich durch ihren Stil und eine Suche nach neuen Möglichkeiten aus, was sie zu einer gewissen Alternative der Richtung von Karamsin und Schukowski machen. Die „aufgebauschte“ Sprache wird auch in seiner Erzählung „Ado“ (1824), die absichtlich im hohen Stil geschrieben war, zu einer der Hauptzielscheiben der Kritik, was den Autor später veranlasste, den Text umzuschreiben. Küchelbecker begründet seine Ansichten theoretisch in seinem Aufsatz „О направлении нашей поэзии, особенно лирической, в последнее десятилетие“ („Über die Richtung unserer Poesie, insbesondere der lyrischen, im letzten Jahrzehnt“, 1824), in dem er für die Einzigartigkeit und Originalität der Literatur plädiert. Diese Ansichten entwickelte er in seinem späteren Text „Разговор с Ф. В. Булгариным“ („Ein Gespräch mit F. W. Bulgarin“, 1824) noch weiter. In den 1830er Jahren kommt Küchelbecker auf die groß angelegte Idee, das „Russische Dekameron“ („Русский Декамерон“ ) zu schaffen. Es schwebt ihm ein aus mehreren Teilen bestehendes Werk vor – eine Sammlung aus Prosastücken, lyrischen Fragmenten und Poemen. Einige von ihm ursprünglich zu diesem Zweck abgefasste Texte erlangten später einen eigenständigen Wert, z. B. das Poem „Агасвер“ („Ahasver“) (1846). In seiner Kaukasus-Periode interessierte sich Küchelbecker auch lebhaft für orientalische Literatur und las die persischen Autoren Abū ´l-Qāsim Firdausī und Moscharraf od-Din Abdullah. Küchelbecker schrieb ferner die Tragödien „Аргивяне“ („Die Argiver“, 1823), „Прокофий Ляпунов“ („Prokofi Ljapunow“, 1834), „Иван, купецкий сын“ („Iwan, der Kaufmannssohn“, 1842), ein Opernlibretto nach Pedro Calderón de la Barcas Drama „Amar después de la muerte o El tuzaní de la Alpujarra“, die Poeme „Давид“ („David“, 1829), „Юрий и Ксения“ („Juri und Xenia“, 1836) usw. Als sein wichtigstes Werk gilt gemeinhin der Briefroman „Последний Колонна“ („Der letzte Colonna“, 1843), der nach Motiven des sentimentalen Romans „Les Épreuves du sentiment“ des französischen Schrifststellers François-Thomas-Marie de Baculard d’Arnaud geschaffen ist. Die Forschung hat in diesem Roman von Küchelbecker auch Einflüsse von Washington Irving, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und Honoré de Balzac festgestellt. Erwähnenswert ist außerdem das Tagebuch, das Küchelbecker in Reval zu führen begann und das das geistig rege Leben des Autors illustriert: festgehalten werden seine Eindrücke von klassischen und neuen schöngeistigen Texten, ferner finden sich hier Überlegungen und Beobachtungen über sowohl die zeitgenössische Literatur als auch über die Bibel. „Ado“Unter den Texten von Küchelbecker, die sich mit estnischen Themen auseinandersetzen, hat neben einer Reihe nostalgischer, von der Kindheit des Autors handelnder Gedichte die Erzählung „Ado“, die zum ersten Mal im Almanach „Мнемозина“ erschien, einen besonderen Stellenwert. Die Erzählung enthält viele mit Estland verbundene geographische und linguistische Realien – der Hügel in Awwinorm, Ulwi (Ulvi) und Torma sind wirklich existierende geographische Punkte. Es finden sich auch wirkliche estnische Personennamen: Ado, Tio (Tiiu) und Madli. Im Zusammenhang mit dem benutzten linguistischen Material kann man auch von spezifischen Namen der handelnden Personen sowie von einem heidnischen Pandämonium sprechen: Сур – Suur (dt. „Groß“), Нор – Noor (dt. „Jung“), der heidnische Gott Юмала („Jumala“, von estn. jumal = Gott), der böse Geist „курат“ („Kurat“, von estn. kurat = Teufel). Auch Wörter, die eine Tätigkeit charakterisieren bzw. eine nationale Zugehörigkeit bezeichnen, werden benutzt: „кубьяс“ – Gutsaufseher (von estn. kubjas), „маймес“ – Landmann (Este) (von estn. maamees), „саксонец, сакс“ – Deutscher (Herr) (von estn. sakslane = Deutscher, saks = Herr). Doch Küchelbecker unterlaufen gelegentlich auch Fehler. So etwa bezeichnet er Ado als „emand“, indem er die Wörter „emand“ (estn. Frau) und „isand“ (estn. Herr) durcheinanderbringt. Neben veralteten Toponymen stehen in „Ado“ auch zeitgenössische: Tartu (Dorpat) nennt er z. B. auch Derpt, obwohl es diesen Namen zur Zeit der Handlung, die nach Valmar Adams in den Jahren 1217–1234 stattfindet, noch nicht gab. Kennzeichnend ist ferner, dass Küchelbecker aus verschiedenen Traditionen stammende Namen durch- und nebeneinander benutzt. So heißt der Fluss Emajõgi in „Ado“ sowohl Embach (wie auf Deutsch) als auch Amoschiwa (Amoživa) (wie auf Russisch). Der multikulturelle Charakter des Textes lässt sich zu einem Großteil durch die Orientierung des Autors an der Ideologie der Romantik erklären. „Ado“ gehört in die romantische Tradition. Für die in dieser Erzählung dargestellte Welt ist ein „Doppelglaube“ charakteristisch: der altbewährte Glaube an heidnische Götter (etwa an den lettischen Pērkons) wird mit dem Christentum verknüpft. Die Naturschilderungen weisen thematisch immer auf die emotionale Ebene der Handlung hin. Bei der Wiedergabe der Handlung werden Kontraste effektvoll eingesetzt: so artet ein vornehmes Fest von kühnen Rittern und weiblichen Schönheiten in ein Blutbad aus, das nur von einem Dichter, der auf dem Fest mit seinen Liedern auftritt, vorausgeahnt wurde. Der Autor reichert den Text gern mit Liedern an, dabei sind die als Volkspoesie vorgeführten Lieder, die Ados Tochter Maia singt, nach V. Adams’ Einschätzung in Wirklichkeit die Schöpfung des Schriftstellers Küchelbecker. Es gibt in „Ado“ auch offenbare Entlehnungen von berühmten christlichen Legenden: die Rettung von Maia aus der Gefangenschaft durch Michail erinnert an die Geschichte der römischen Heiligen Theodora, Ados Krankheit und spätere Genesung symbolisieren seine Absage an das Heidentum und die Bekehrung zum Christentum. Die Erzählung von Küchelbecker hat klare politisch-ideologische Konnotationen: die lokale Mehrheit hat zwischen den grausamen Kreuzrittern und den freundlichen russischen Nachbarn eine Wahl zu treffen. Der Autor betont, dass die damaligen Esten zu ihrer Abhängigkeit von Nowgorod, dessen Ideale er im Geist der dekabristischen Tradition lobt, gestanden hätten. Die Episode von der Reise des estnischen Landmannes Noor nach Nowgorod und seine Geschichte von seinen Beziehungen zu den Russen, entwickelt sich wie ein Bildungsroman im Kleinen: das „einfache Naturkind“ bewundert seinen neuen geistigen Vater, den „fortschrittlichen Bürger“ Derschikrai, erlernt seine Sprache, lässt sich in seinem Glauben taufen und nennt sich seitdem Juri. Die Frage nach dem historischen Entwicklungsweg wird vor dem Hintergrund konkreter Personen gestellt: der unschlüssige Noor bzw. Juri wählt die Seite seines neuen geistigen Vaters und kehrt Ado den Rücken zu, und schließlich lässt sich auch Ado taufen, ja stärker noch: „Es schien, dass in Derschikrai die Erinnerung an seinen Freund Suur wachgeworden war“. Die gegenseitigen Beziehungen vieler Personen in der Geschichte beruhen auf der Grundlage des Parallelismus: durch das Thema von Vaterschaft und Führung etwa werden Suur (der hinterher von den Deutschen getauft und auch getötet wird), Ado und Derschikrai miteinander verknüpft. Gleichzeitig macht die Erzählung auch kein Hehl aus gewissen Problemen in den Beziehungen zwischen Esten und Russen: die Volksversammlung in Nowgorod ist nicht bereit, den Esten zur Hilfe zu kommen und der darauffolgende Feldzug von Jaroslaw erweist sich als erfolglos. Als Hauptgrund, der die russischen Fürstentümer daran hinderte, dem estnischen Volk zur Hilfe zu kommen, nennt der Autor die Ankunft der Tataren in den russischen Ländern. Küchelbecker trägt seine Personen sehr gekonnt in unterschiedliche historische und mythologische Register ein: z. B. kommt Juri bei der Belagerung von Dorpat (Jurjew) ums Leben und sogar der katholische Geistliche erkennt seine Heiligkeit an. Durch seine Erzählung erweitert Küchelbecker die Mythologie des dargestellten Raumes. Ein besonders spannendes Beispiel dafür ist die Verwendung des Namens Michail: so heißt ein Lette in deutschen Diensten, der Esten vom Tod errettet, aber auch der Sohn von Juri und Maia, der seine Eltern verliert und seitdem beim alten Derschikrai aufwächst (mit anderen Worten: sich in der russischen Gesellschaft assimiliert). Einerseits gibt dieses Motiv ein sprechendes Zeugnis vom Vorteil der „historischen Wahl“, die der russischen Seite den Vorzug gibt; andererseits regt es aber die Leser an, über die Kompliziertheit multikultureller Beziehungen als solche nachzudenken. Man darf auch nicht vergessen, dass der Eintritt der estnischen „Naturkinder“ in den Rahmen der russischen Kultur nicht nur als Russifizierungsprozess anzusehen ist, sondern zugleich als Bekenntnis zu den republikanischen Idealen, die für Küchelbecker, den späteren Dekabristen, äußerst wichtig waren. Die Erzählung „Ado“ verliert ihre Bedeutung auch im Kontext der estnischen Literatur nicht. Laut Adams „erschuf die estnische Erzählung von Küchelbecker, dieser frühe Versuch eines russischen Schriftstellers, belletristisch die estnische Vorzeit aufs Neue, lange vor der Entstehung des historischen Genres in der estnischen Literatur (in den Werken von E. Bornhöhe, J. Järv, A. Saal, G. E. Luiga u. a.)“ (Адамс 1956: 259). Man kann annehmen, dass „Ado“ das allgemeine romantische Modell des späteren estnischen Geschichtsnarrativs verwirklichte: die traditionell negative Darstellung der dem „richtigen“ Christentum angeblich fern stehenden deutschen Eindringlinge, die Idealisierung der „alten Esten“, das Pathos des Freiheitskampfes und die stereotypen Naturschilderungen. Die Erzählung von Küchelbecker lässt sich vor allem mit dem Schaffen des estnischen Autors Eduard Bornhöhe in Zusammenhang bringen – mit seinen Erzählungen „Tasuja“ („Der Rächer“, 1880) (enthält u.a. auch eine Kampfszene mit einem Bären), „Villu võitlused“ („Die Kämpfe von Villu“, 1890) (hier wird das Motiv der Gefangenschaft weiterentwickelt) und „Vürst Gabriel“ („Der Fürst Gabriel“, 1893) (ein zentrales Motiv hier sind die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Esten und Russen). Boris Weisenen |